Russischer Dschihad

Die Gewaltbereitschaft der russischen Neonazi-Szene wächst, unverhohlen sprechen die Protagonisten von einem "heiligen Rassenkrieg"

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"Wenn Du Kakerlaken tötest, tun sie dir doch auch nicht leid, oder?", poltert Semyon Tokmakov, als er nach dem neunjährigen Mädchen aus Tadschikistan gefragt wird, das Anfang des Jahres in St. Petersburg von Skinheads erstochen wurde. Der 28-Jährige ist einer der Köpfe der rechten Szene in Moskau, das ebenso wie St. Petersburg zu den Zentren extremistischer Aktivitäten in der ehemaligen Sowjetunion zählt. Rund 50 verschiedene Neonazi-Organisationen soll es in Russland geben. Namen wie "Russische Nationale Einheit", "Schulz88", "Russische Faust", "Kolowrat" oder die russische Sektion von Blood&Honour sind nur einige der bekanntesten unter ihnen.

Während der harte Kern der größtenteils in den 90er Jahren entstandenen Gruppen meist aus einigen Dutzend Personen besteht, ist vor allem die Zahl der rekrutierungswilligen Sympathisanten besorgniserregend hoch. Aktuelle Untersuchungen des Moskauer Büros für Menschenrechte und anderer NGOs beziffern die Anzahl russischer Skinheads mittlerweile auf rund 50 000. Mit steigender Tendenz, wie prognostiziert wird - Schätzungen zufolge könnte sich die Zahl innerhalb der nächsten zwei Jahre sogar verdoppeln, wenn keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Doch genau an dieser Stelle liegt das Problem. Die Anzahl von fremdenfeindlich motivierten Straftaten in Russland ist 2003 um 30 Prozent gestiegen. Experten gehen davon aus, dass gewaltsame Übergriffe jährlich zwischen 20 und 30 Todesopfer fordern. Anders jedoch als in den meisten westeuropäischen Staaten werden Straftaten mit rassistischem Hintergrund, so genannte "Hassverbrechen", in Russland nur selten konsequent verfolgt und oftmals als Akte von Vandalismus oder jugendlichem Rowdytum abgehandelt. Die entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation werden nur selten in Anspruch genommen. Das gilt, wie aus den Aussagen der zuständigen Polizeibehörden hervorgeht, für den Fall des jungen Mädchens aus St. Petersburg ebenso wie für den tödlichen Angriff auf einen pakistanischen Studenten im südrussischen Ulyanowsk im Mai oder den dunkelhäutigen US-amerikanischen Botschaftsangehörigen, der 1998 auf einem Moskauer Marktplatz halbtot geprügelt wurde. Einer der Täter im letzten Fall war Semyon Tokmakov. Ein Gericht verurteilte den Skinhead zu einer Haftstrafe wegen "Hooliganismus", die nach anderthalb Jahren vorzeitig aufgehoben wurde.

Mindestens 10.000 Mitglieder extremistischer Gruppierungen werden nach Angaben des russischen Innenministeriums überwacht. Ausreichend scheint das allerdings kaum zu sein. Auch die Verbreitung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften mit rechtsextremen Inhalten wird von den russischen Behörden kaum unterbunden. Eine ganze Reihe von Publikationen wie z.B. das vierteljährlich erscheinende Magazin der russischen Neonazis, "Russkij Porjadok" (Russische Ordnung), sind an Straßenkiosken oder in Buchläden erhältlich. Offen werden darin Antisemitismus oder extremer Hass auf Immigranten aus den Kaukasusstaaten (z.B. Tschetschenien, Dagestan, Armenien oder Aserbaidschan) propagiert.

Nicht selten rufen die Autoren zur Vertreibung aller ethnischen Minderheiten und zum bewaffneten Untergrundkampf nach dem Vorbild al-Qaidas oder der irischen Widerstandsbewegung IRA auf. Den eigenen Angaben zufolge besteht das gut organisierte rechtsextreme Netzwerk aus autonomen Zellen, die via Internet miteinander kommunizieren und nur für die Durchführung von Aktionen zusammenkommen. Wie Semyon Tokmakov sprechen viele der Anhänger von einem "heiligen Rassenkrieg" - einem russischen Dschihad - und der Verhinderung des andauernden "Völkermordes an der weißen Rasse".

Wie ernst es ihnen damit ist, hat der Mord an dem Anthropologen Nikolai Girenko vor einigen Wochen deutlich gemacht, zu dem sich russische Rechtsextremisten bekannt haben. In einer im Internet veröffentlichten Erklärung wurde die Arbeit des 64jährigen Professors als "Verbrechen gegen russische Patrioten" bezeichnet, auf deren Grundlage der "Verräter" zum Tode verurteilt worden sei.

Als führender Rassismus-Experte des Landes war Girenko in vielen Prozessen gegen rechte Gewalttäter als Sachverständiger gehört worden. Oftmals hatten lediglich seine Aussagen sichergestellt, dass fremdenfeindlich motivierte Übergriffe tatsächlich als "Hassverbrechen" eingestuft wurden, was ein deutlich höheres Strafmaß nach sich zieht als eine Verurteilung wegen Rowdytum. Girenko hatte sich vor seiner Ermordung auf zwei Verfahren gegen Mitglieder der paramilitärischen Bewegung "Russische Nationale Einheit" und "Schulz88", einer der gewaltbereitesten Gruppierungen, vorbereitet. Erst vier Tage vor dem Mord an Girenko war in Saratow, rund 1400 Kilometer südlich von St. Petersburg, ein Passant aus Aserbaidschan von einer Gruppe von Skinheads angegriffen worden, die dem Umfeld von "Schulz88" zugeordnet werden. Die Ziffer "88" im Namen steht, wie in rechtsradikalen Kreisen üblich, symbolisch für das doppelte H als 8. Buchstaben des Alphabetes - Heil Hitler.

Verbündete im In- und Ausland

Trotz ihrer Brutalität ist die wachsende rechtsextreme Szene in Russland keineswegs isoliert. Die Gruppen sind Teil einer neuen Nationalismuswelle innerhalb der post-sowjetischen Gesellschaft. Stockende Reformen, hohe Arbeitslosigkeit und zunehmende Migrationsströme lassen vor allem Jugendliche zur leichten Beute rechter Ideologien werden, die ethnischen Minderheiten als Wurzel des Problems identifizieren und mit Appellen an Ehre und Nationalstolz auf Stimmenfang gehen.

Der Slogan "Russland den Russen" war auch vor den letzten Parlamentswahlen häufig zu hören. Parteien wie das Wahlbündnis "Rodina" (Heimat), die "Liberaldemokratische Partei Russland" oder Teile der Kommunisten fördern nationalistische Bestrebungen und scheuen sich nicht, dabei auf fremdenfeindliche Rhetorik zurückzugreifen. Die Parteien lehnen Gewalt als Mittel zwar offiziell ab, teilen jedoch viele ideologische Maximen des extremistischen Lagers und sorgen damit für das Verschwimmen der Grenze zum politischen Mainstream. Der eingefleischten Skinhead-Szene sind allerdings selbst radikale Politiker wie der Ultranationalist und Antisemit Wladimir Schirinowski noch zu moderat. Angesichts der drohenden Auslöschung der weißen Rasse sehen sie Gewalt als die "einzige der Jugend noch zur Verfügung stehenden Form der Selbstverteidigung" an.

Verbündete im Geiste findet die russische Rechte im Land des ehemaligen Klassenfeindes, wo manch "rassenbewusster Patriot" zurzeit neidvoll Richtung Moskau blickt. "Russia: The New Northern Bastion" - "Russland: Die neue Bastion des Nordens" lautete der Titel der letzten Ausgabe von "National Vanguard", der monatlichen Publikation der in West Virginia ansässigen Neonazi-Organisation National Alliance. Russland, so wird im Leitartikel postuliert, könnte in den kommenden Jahrzehnten zum Schlüssel für das "Überleben der Gründerrasse der westlichen Zivilisation" werden.

Und auch David Duke, ehemaliger Ku Klux Klan-Wizard und von vielen favorisiertes Sprachrohr einer salonfähigen rechten Bewegung in den USA, ist überzeugt, dass im revolutionären Klima der "weißesten aller europäischen Nationen" eine radikalpatriotische Partei wachsen und letztendlich die Macht übernehmen könnte. Russland sei nicht nur frei von dem in Amerika herrschenden zensiert-oberflächlichen Geschichtsbewusstsein, sondern zeige auch ein wesentlich größeres Bewusstsein gegenüber der Gefahr des nach Dominanz strebenden Weltjudentums. Selbst in Wladimir Putin wollen einige ob seines Vorgehens gegen angeblich kriminelle jüdische Oligarchen wie Boris Beresowski oder Michail Chodorkowski einen "Kampfgefährten" ausgemacht haben.

In Russland gibt man die Bewunderung gern zurück. Gefragt nach seinen Vorbildern nannte ein Mitglied von "Schulz88" im Interview den Attentäter von Oklahoma City Timothy McVeigh oder den verstorbenen National Alliance-Führer und "white supremacy"-Advokaten William Pierce. Rühmlich ist diese neue interkontinentale Verbundenheit kaum.