Russland: Krieg um die Online-Meinungshoheit

Das russischsprachige Internet hat eine große Bandbreite von Meinungen, auch regierungskritische Medien gehören online zu den großen Akteuren. Das soll sich nun ändern

Die russische Staatsmacht ist aktiv auf dem Weg, im Onlinebereich eine ähnliche Meinungshoheit herzustellen, wie sie sie im Inland bei den klassischen Medien schon hat. Bis auf wenige Sender findet im TV oder Radio regierungskritische Berichterstattung kaum statt - online ist das noch anders. Nun haben die russischen Behörden zwei Ziele im Fokus: kritische Webmedien mit nennenswertem Einfluss und soziale Netzwerke, über die sich Oppositionelle austauschen.

Angriff auf eine wichtige Informationsquelle

Als kürzlich in einem Interview die junge Moskauer Analystin Julia Dudnik gefragt wurde, ob ausländische Medien wie die Deutsche Welle oder das US-amerikanische Radio Swoboda viel Einfluss auf ihre Generation hätten, verneinte sie das für solche westlichen Regierungspublikationen. Aber jeder, den sie in ihrem Alter kenne, habe online unter anderem Meduza abonniert, auch junge Staatsbeschäftigte.

Die unter jungen Russen populäre kritische Onlinezeitung wurde nun durch das dortige Justizministerium als "ausländischer Agent" eingestuft. Das bedeutet, dass jeder Artikel mit einem entsprechenden Hinweis versehen werden muss und dass auch jeder Journalist, der für Meduza schreibt, mit dieser Einstufung rechnen muss. Werbekunden können abspringen und die Zeitung ist dadurch existenziell bedroht, da sie von Werbeaufträgen russischer Unternehmen und Crowdfunding lebt.

Begründet wird die restriktive Maßnahme von Kremlsprecher Peskow mit dem lettischen Sitz der Zeitung in Riga. Sie ist aber kein Projekt westlicher Fonds, die Verdacht stehen, "Regime-Change" von außen zu betreiben. Ein Einstieg etwa des kremlfeindlichen Oligarchen Chodorkowski in die Zeitung kam gerade deswegen nicht zustande, weil er Einfluss auf deren unabhängige Berichterstattung nehmen wollte. So wird bei Meduza wirklich freier Journalismus staatlich unterdrückt.

Vom Agenten zum Extremisten

Eine Stufe weiter sind die Dinge bei den Organisationen des Oppositionellen Nawalny gediehen, der ebenfalls über seinen Online-Veröffentlichungen erst breites Publikum hatte. Seine Vereinigungen werden jetzt sogar des Extremismus beschuldigt, was nicht nur eine Brandmarkung zur Folge hat, sondern die sofortige Schließung, noch bevor dieser Vorwurf gerichtlich abschließend geklärt ist.

Nach Ansicht der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta zeigt sich hier die volle Macht der russischen Behörden: Der Agent von heute werde morgen zum Extremisten, übermorgen zum Verräter, Spion und Saboteur - mit allen strafrechtlichen Konsequenzen. Die herrschende Elite könne nach Ansicht der Zeitung frei bestimmen, wer als Extremist gelte - ob er nun wirklich terroristisch arbeite oder korrupte Beamte enttarne.

Solche Aktionen ernten nicht nur im Ausland, sondern auch in den verbliebenen kritischen Medien in Russland selbst ein heftiges Echo. Alle wissen: Sie selbst könnten die nächsten sein. Der liberale TV-Sender Doschd, innerhalb Russlands praktisch der einzige seiner Art, spricht im Fall Meduza von einer eindeutig politischen Entscheidung, die Arbeit des einflussreichen Magazins einzuschränken.

Nesawisimaja-Chefredakteur Konstantin Remtschukow sieht im staatlichen Vorwurf, wonach Nawalny Behörden destabilisiere, eine Farce. Es stelle sich die Frage, was unter einer stabilen Situation verstanden werde: "Die Mächtigen kommen zusammen und reden, stimmen sich ab, sind sich einig, unterstützen jeden Punkt und gehen wieder auseinander?"

Jede echte Meinungsfreiheit könne bei diesem Ideal als Destabilisierung interpretiert werden. So rührt sich aktuell massiver Unmut auch bei einer ganzen Reihe von Leuten, die selbst gar keine Anhänger von Nawalny oder Befürworter seines Machtstrebens sind.

Offensive gegen soziale Medien

Doch die Onlinemedien sind nicht das einzige Ziel der staatlichen Aktivitäten. Im Januar verwarnte die russische Aufsichtsbehörde die sozialen Netzwerke TikTok und VK.com, da User dort Fotos von nicht genehmigten Protesten im Land gepostet hatten, auf denen auch Minderjährige zu sehen sind. Noch im gleichen Monat gab es eine Warnung an alle sozialen Netzwerke, dass sie die Verbreitung von Aufrufen zu solchen Protesten zu unterdrücken hätten und es sonst eine hohe Geldstrafe gebe.

Ähnlich wie beim europäischen Urheberrecht werden die sozialen Netze damit selbst aufgefordert, aus Angst vor staatlichen Repressionen Inhalte vorbeugend zu unterdrücken - denn welches Foto stammt von einer genehmigten Demo, welcher Protest ist illegal und wie lässt sich das sofort feststellen?

Einen Schritt weiter ist man in Russland bereits, wenn es um das US-amerikanische Netzwerk Twitter geht, das wegen der Konkurrenz des einheimischen Telegram keine große Marktmacht hat. Es wurde nach einem ähnlichen Konflikt bereits gedrosselt und eine Sperre durch die russische Aufsichtsbehörde liegt im Bereich des Möglichen.

Munition für den Kampf gegen die US-amerikanischen Netzwerke liefert der Westen den russischen Behörden selbst. Als Vorwand für repressive Maßnahmen dienen immer wieder Aktionen westlicher Staaten gegen regierungsnahe russische Medien, die denen Desinformation vorgeworfen wird. Die Sperrung von YouTube-Kanälen von RT und Sputnik-News machen die Rechtfertigung russischer Aktionen gegen YouTube einfach. Gleiches gilt für Inhalte auf Twitter.

Die meist darauf folgende Kritik aus dem Westen an Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Russland verliert durch solche Repressionen gegen von westlichen Regierungen wenig geliebte russische Medien an Überzeugungskraft.

Nationalisierung und Putins Rolle

In Russland wird der Kampf gegen missliebige Akteure im eigenen Netz von einer sogenannten "Nationalisierung" der russischen Netzstruktur begleitet. Mit der Begründung des Schutzes vor Cyberangriffen wird die Anzahl der Übergangspunkte ins ausländische Internet reduziert - mit dem Nebeneffekt, wie Fachleute monieren, dass auch allgemein unliebsame Inhalte aus dem Ausland effektiver gesperrt werden können, so dass sie von Russland aus nicht mehr abrufbar sind.

Aus den Niederungen dieses Kampfes hält sich die Symbolfigur der Regierungsmacht Präsident Putin weitgehend heraus, doch die Maßnahmen gegen missliebige Kommunikation geschehen sicher mit seiner Billigung. Er unterstützt sie mit Reden, die das weltweite Netz vor allem als Ort von Gefahren beschreiben. Der Fokus dieser Ansprachen liegt dabei stets auf Online-Aspekten, die jeder verwerflich findet, wie Kinderpornos oder Drogenhandel.

Doch die Maßnahmen, die ergriffen werden, haben noch ganz andere Wirkungen, die über die Kriminalitätsbekämpfung weit hinaus gehen und kritische Berichterstattung und Austausch einschränken. So entsteht eine regierungsnahe Meinungsdominanz. Putins Rede im März fasst der Moskauer Kolumnist Andrej Kolesnikow von der Zeitung Kommersant damit zusammen, dass der Staat jetzt aufgehört habe, sich mit dem Internet abzufinden und dort jetzt einen Krieg beginne.

Online Informierte sind kritischer

Die Motivation für diesen Krieg ist nicht schwer herauszufinden. Seit vielen Jahren schneidet die Regierung in Umfragen stets am schlechtesten bei denen ab, die sich in Russland bevorzugt online über Nachrichten informieren: Jüngere und urbane Russen. Sie nutzen die im RuNet vorhandene große Meinungsvielfalt, während für Ältere das regierungsnahe TV Nachrichtenquelle Nummer eins ist.

Das hieraus resultierende gespaltene Stimmungsbild zeigt sich auch am aktuellen Online-Krieg. Als der russische Staat in der jüngsten Zeit massiv gegen Twitter vorging, glaubten bei einer Umfrage 55 Prozent der jüngeren Russen, dass es hier um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit handelt, aber nur 28 Prozent der Älteren. Meinungsbeeinflussung über die gezielte Selektion und Präsentation von Nachrichten funktioniert weltweit.

Im vielfältigen Internet mit unzähligen Veröffentlichungskanälen lässt sich die Einschränkung oder Begrenzung der Auswahl nur mit großem Aufwand und Druck steuern - ein Druck, den jetzt staatlich-russische Stellen bereit sind auszuüben. Der Krieg um die Oberhoheit der Online-Meinungen in Russland hat begonnen.