Russland als Teil des Globalen Südens?

Seite 2: Russland als Teil der erweiterten Dritten Welt

Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Kurs schlug nach einigen Kehrtwendungen Russland, das Kernland der ehemaligen Sowjetunion, ein. Vorbei sind die Jahre, in denen es sich zwischen 1991 und 2014 – erst unter Boris Jelzin und dann unter Wladimir Putin – selbst zum Westen rechnete.

Es war die Zeit der Mitgliedschaft des Landes im elitären Klub der G 8, dem Machtzentrum der bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt. Doch bereits Anfang der 2000er Jahre begann der Entfremdungsprozess. Unter der Präsidentschaft Putins durchlief dieser Prozess mehrere Etappen.

Nach der Annexion der Krim kam es 2014 zum Bruch. Moskau wurde aus der G8 geworfen und mit weitreichenden Sanktionen belegt. In seinem in jenem Jahr erschienenen Buch "Wenn die Linke fehlt…" bewertet Losurdo diese Entwicklung:

Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine halbabhängige Lage geraten kann.

Losurdo durchschreitet in großen Schritten die wechselvolle Geschichte Russlands, wobei er besonders auf die wiederholten Versuche des Deutschen Reiches hinweist, das Riesenland aufzuteilen und in eine gigantische Kolonie - in das "deutsche Indien", wie Hitler zu sagen pflegte – zu verwandeln:

Nachdem es fast zwei Jahrhunderte die Mongolenherrschaft ertragen und lange den Albtraum der Ordensritter erlebt hatte, sah Russland Anfang 1600 seine Hauptstadt von den Polen besetzt; rund hundert Jahre später erfolgte die Invasion durch Karl XII. von Schweden und wieder ein Jahrhundert später diejenige Napoleons; am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Russland nicht nur die Intervention der Westmächte zu ertragen, sondern auch einen Balkanisierungsprozess, der nicht aufzuhalten schien.

Von diesem Prozess sei Hitler ausgegangen, um den später mit der Operation Barbarossa umgesetzten Plan zu hegen, der das riesige eurasische Land in eine immense Kolonie und einen immensen Pool an Sklavenarbeitskraft verwandeln sollte.

Am Ende der im Kalten Krieg erlittenen Niederlage sei Russland für einige Zeit zurück in eine Lage verfallen, die derjenigen, die auf die Niederlage im Ersten Weltkrieg folgte, ziemlich ähnlich war; noch heute schaffe das unerbittliche Vordringen der Nato in Osteuropa eine gefahrenreiche Situation. Losurdo dazu:

Wir haben damit eine erweiterte Dritte Welt vor uns, die die Schwellenländer und die sozialistisch orientierten Länder umfasst und insgesamt vom Kampf um die Realisierung oder die endgültige Durchsetzung zweier Menschenrechte charakterisiert ist, nämlich der 'Freiheit von Not' und der 'Freiheit von Angst'. Diese größere Dritte Welt, die natürlich reich an Widersprüchen in ihrem Inneren und gewiss nicht frei von Herausforderungen und Schwierigkeiten ist, stellt trotzdem eine Alternative zur herrschenden Weltordnung dar, aber weniger auf der internen Ebene der einzelnen Länder als bezüglich der internationalen Arbeitsteilung, die so lang dadurch gekennzeichnet war, dass der Westen die Hochtechnologie monopolisiert und den Rest der Welt auf einen Lieferanten von Rohstoffen, von Niedriglohnarbeit und nicht zuletzt auf einen Absatzmarkt für anspruchsvollere Waren aus den entwickelten kapitalistischen Ländern reduziert hat.

Diese Sichtweise ist auch die des Philosophen und Publizisten Arnold Schölzel. In einem Artikel mit der Überschrift "Imperialismus-Inflation", in dem er sich kritisch mit Positionen auseinandersetzt, die Russland heute als imperialistisches Land bewerten, schreibt er: "Die Vernachlässigung dieser Perspektive auf Russland, d. h. das seit mehr als 100 Jahren vorherrschende Bestreben, dieses Land zu kolonialisieren, zu ignorieren, scheint mir ein Hauptgrund für heutige unterschiedliche Beurteilungen des Ukraine-Kriegs zu sein."

"Die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges", die Losurdo schon vor acht Jahren sah, sind inzwischen bedrohlich nahegekommen. Tatsächlich begann der Krieg um die Ukraine bereits 2014. Er ist mittlerweile "Der längste Krieg in Europa seit 1945", wie der Titel eines Buches von Ulrich Heyden lautet.

In der Reaktion der übrigen Dritten Welt auf das russische Vorgehen bestätigt die damaligen Analyse Losurdos: China schloss noch kurz vor dem russischen Angriff demonstrativ einen Freundschaftsvertrag mit dem Land.

Weitere gewichtige Staaten des Südens wie Argentinien, Brasilien, Indien, Indonesien, Pakistan, Senegal, Südafrika und Vietnam weigern sich beharrlich, die westliche Sanktionspolitik gegenüber Russland mitzutragen. Im Gegenteil: Staaten wie Indien und Indonesien weiten sogar ihren Wirtschaftsaustausch mit dem verfemten Land aus.

Mit der erweiterten Dritten Welt entsteht zwar kein neuer, in sich geschlossener Machtblock, dazu sind die Unterschiede unter den einzelnen Ländern viel zu groß. Dennoch blockiert diese heterogene Ablehnungsfront zumindest die vom Westen angestrebte totale Isolation Russlands. Damit werden dem Westen seine Grenzen aufgezeigt.

Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung muss das anerkennen. Über Putin heißt es dort: "In einem hat er sich nicht vertan: Seine Allianz mit China hält, und die Mittelposition von Ländern wie Indien kommt ihm ebenfalls zugute, sogar materiell. Wenn man so will, ist der Ukrainekrieg tatsächlich die erste Schlacht des multipolaren Zeitalters."

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