Russland als Teil des Globalen Südens?

Putin und Modi, hier 2014, kooperieren auch weiterhin eng. Bild: krmlin.ru, CC BY 4.0

Der Krieg um die Ukraine wird von einem Kampf um die Dritte Welt flankiert. Der Italiener Domenico Losurdo stellte dazu eine beachtliche These auf. Die Reaktionen auf den Krieg geben ihm recht.

In seinem Buch "Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte") behandelte der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo (1941-2018) die Entfremdung zwischen westlichem und östlichem Marxismus. Erschienen ist das Buch 2021 auf Deutsch und im italienischen Original vier Jahre zuvor.

Was hat Losurdo unter diesen beiden Marxismen verstanden? "Geboren im Herzen des Westens, hat sich der Marxismus mit der Oktoberrevolution in jeden Winkel der Erde ausgebreitet, wobei er entschieden auch in ökonomisch und sozial weniger entwickelte Länder und Gebiete mit recht unterschiedlicher Kultur eindrang.

Mit der jüdisch-christlichen Tradition als Hintergrund schwangen im westlichen Marxismus (…) nicht selten messianische Motive mit (die Erwartung eines 'Kommunismus', mit dem jeglicher Konflikt und Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art 'Ende der Geschichte').

Der Messianismus fehlt hingegen weitgehend in einer Kultur wie der chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität gekennzeichnet ist. Die weltweite Ausbreitung des Marxismus ist der Anfang eines Spaltungsprozesses, der die andere Seite seines aufsehenerregenden Sieges ist." (Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, PapyRossa Verlag, Köln 2018, S. 258)

Zu den vom östlichen Marxismus geprägten Staaten zählte Losurdo neben China auch Vietnam sowie Kuba, obwohl sich dieses Land in einer ganz anderen Weltregion befindet und sich seine Führer – zumindest in den ersten Jahren nach der Revolution – stark von messianischen Gefühlen leiten ließen.

Der Historiker und Philosoph Domenico Losurdo gilt als einer der bedeutendsten und zugleich produktivsten marxistischen Theoretiker der Gegenwart. Er veröffentlichte nicht weniger als 32 Bücher. Und es gibt weitere unveröffentlichte Manuskripte. Seine Bibliografie weist 200 Essays und Artikel auf. Weiterhin verfasste er Beiträge für 31 Bücher anderer Autoren. In Deutschland sind seine Werke vor allem im PapyRossa Verlag aber auch beim Argument-Verlag sowie bei VSA erschienen. Übersetzt wurden seine Bücher in zahlreiche Sprachen. Allein das Werk "Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des Liberalismus" erschien in zwölf Sprachen.

Wie keinem anderen gelang es Losurdo, den traditionell engen eurozentristischen Horizont europäischer Marxisten zu überwinden. Geschichte und Gegenwart des Globalen Südens waren in seinem Denken und seinen Arbeiten stets präsent. Und so überrascht es nicht, dass er heute in vielen Ländern des Südens, etwa in Brasilien, intensiv gelesen wird. Nirgendwo sonst wurden auch so viele Bücher von ihm verkauft wie in diesem südamerikanischen Land.

Die Überwindung der Spaltung zwischen westlichem und östlichem Marxismus sah Losurdo als zentrale Aufgabe der Linken:

Während sich die Gewitterwolken eines neuen großen Krieges verdichten, erweist sich eine solche Spaltung als äußerst unglücklich. Es ist an der Zeit, sie nun zu beenden. Natürlich werden dadurch nicht die Unterschiede verschwinden, die weiter zwischen Ost und West bestehen, was die Kultur, den Stand der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung und die zu bewältigenden Aufgaben angeht: Im Osten kann die sozialistische Perspektive nicht von der Vollendung der antikolonialen Revolution auf allen Ebenen absehen; im Westen führt der Weg zu einer sozialistischen Perspektive über den Kampf gegen einen Kapitalismus, der gleichbedeutend ist mit der Verschärfung der sozialen Polarisierung und zunehmenden militärischen Versuchungen.

Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus, a.a.O., S. 260 f.

Eine erweiterte Dritte Welt

In seinem 2014 erschienenen Buches "La sinistra absente – Crisi, societá dello spectacolo, guerra" – auf Deutsch 2017 unter dem Titel "Wenn die Linke fehlt: Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg" erschienen – beschreibt Domenico Losurdo die Weltlage, wie sie sich ihm darbot:

Die Dritte Welt, die Gesamtheit der Länder, die eine mehr oder weniger lange Periode der kolonialen oder halbkolonialen Herrschaft hinter sich haben, ist vom politisch-militärischen Stadium des nationalen Befreiungskampfes zum politisch-ökonomischen übergegangen.

Was Lenin die 'politische Annexion' nannte, d. h. die direkte über ein Volk ausgeübte Kolonialherrschaft, dem das Recht verweigert wurde, sich als unabhängiger Nationalstaat zu konstituieren, ist weitgehend Vergangenheit. Was es noch gibt, ist die 'ökonomische Annexion', heute potenziert durch die militärische Bedrohung (in Form eines gigantischen Militärapparats, der auch ohne Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat in Aktion treten kann) und die juristische (die von einem weitgehend vom Westen kontrollierten und benutzten 'Internationalem Strafgerichtshof' ausgeht).

Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt … Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag, Köln 2017, S. 341 f.

Nicht mehr vorhanden ist der alte Ost-West Systemgegensatz:

Während die Dritte Welt sich in radikaler Weise geändert hat, ist die Zweite Welt buchstäblich verschwunden. Mit diesem Ausdruck belegte man traditionell die Länder sozialistischer Orientierung, die eine Zeit lang in einem 'sozialistischen Lager' ökonomischer und politisch-militärischer Art zusammengeschlossen waren. Der Kapitalismus ist nach Osteuropa, heute zu einem großen Teil in die Nato eingegliedert, zurückgekehrt. Auf der anderen Seite stellen sich China, Vietnam und in letzter Zeit auch Kuba auf internationaler Ebene nicht mehr als alternatives Gesellschaftsmodell gegen das herrschende dar, beanspruchen nicht mehr, der 'Leuchtturm des Sozialismus' im einen oder anderen Teil der Welt zu sein. An erster Stelle engagieren sie sich, zu den industriell und technologisch weiter entwickelten Ländern aufzuschließen, um den Lebensstandard der Bevölkerung anzuheben, mit dem Ziel auch, für die regierende kommunistische Partei die gesellschaftliche Konsensbasis zu verbreitern und zu konsolidieren sowie vom Westen und insbesondere seiner Führungsmacht inszenierte Destabilisierungsversuche zu vereiteln. Nicht weil die sozialistische Orientierung aufgegeben würde, sondern aufgrund der neuen Prioritätenskala tendieren China, Vietnam und Kuba dazu, Teil der Dritten Welt zu werden.

Anders verlief die Entwicklung in Europa. Die früheren europäischen sozialistischen Länder Mittelosteuropas sind längst feste Bestandteile der westlichen Welt. Bis auf einige Länder des Balkans sind sie Mitglieder der NATO sowie der Europäischen Union, auch wenn sie in der EU aufgrund ihres vergleichsweise niedrigen Entwicklungsstands lediglich eine untergeordnete Rolle spielen.

Mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sind sogar Republiken der ehemaligen Sowjetunion Mitglieder geworden. Und geht es nach den Machtzentralen des Westens, so sollen auch Georgien, Moldawien, vor allem aber die Ukraine diesen Weg gehen.

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