"Russland auf Sanktionen vorbereitet"

Seite 2: "Schuldenbremse ist ein fürchterlich dummes ökonomisches Konstrukt"

In Europa haben wir größere Ungleichgewichte, was die Staatsverschuldung anbelangt oder der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die EZB ist in den jüngsten Krisen, auch der Corona-Krise, die Institution, die die Märkte mit Liquidität, Geld, versorgt hat, um Konjunkturkrisen zu vermeiden.

Insbesondere Deutschland hat einen sehr sparsamen, restriktiven Kurs bevorzugt, sogar eine Schuldenbremse eingeführt. Wie beurteilen Sie diese Politik? Wie sollte das Verhältnis zwischen Staaten, ihrer Hauspolitik, und der EZB sein?

Hansjörg Herr: Nach langen Geburtswehen wurde 2012 unter dem damals neuen Präsidenten der EZB Mario Draghi eingeführt, dass die EZB als Lender of Last Resort auch für öffentliche Haushalte dienen kann, wenn sich die Länder bestimmten Auflagen unterwerfen. Dies war überfällig und hat in der Covid-19-Krise viel geholfen. Was fehlt, ist ein starkes fiskalisches Zentrum in der Währungsunion als Partner der EZB.

Dieses Zentrum sollten Eurobonds ausgeben können und auch eigene Steuern erheben dürfen. Die Schuldenbremse, die in Deutschland eine maximale Verschuldung öffentlicher Haushalte in Höhe von 0,35 Prozent am Bruttoinlandsprodukt vorsieht, ist ein fürchterlich dummes ökonomisches Konstrukt. Deutschland und die Währungsunion sollten wieder zur goldenen Regel der Fiskalpolitik zurückkehren, die eine maximale Verschuldung in Höhe von staatlichen Bruttoinvestitionen festschreiben könnte.

Durch eine hohe und langfristig stabile öffentliche Investitionstätigkeit könnten krisenhafte Entwicklungen abgedämpft und die ökologische Transformation befördert werden. Dass in tiefen Krisen zusätzliche staatliche Interventionen notwendig und wirksam sind, hat die Corona-Krise gezeigt.

Die EBZ hat verschiedene Programme aufgelegt und sich dabei als Financier von Staaten verhalten, so die Kritik vor allem deutscher Wirtschaftswissenschaftler. Halten Sie diese Kritik für gerechtfertigt?

Hansjörg Herr: In der Tat hält die EZB derzeit über 40 Prozent der Staatsschulden in der Währungsunion in ihren Büchern und hat damit massiv öffentliche Haushalte finanziert. Dies ist in der gegenwärtigen Situation stabilisierend und nicht gefährlich. Aber langfristig sollten Staatsschulden nicht laufend anwachsen und konsumtive Ausgaben öffentlicher Haushalte über Steuern finanziert werden. Insbesondere höhere Einkommensgruppen und Vermögende sollten höher Steuern bezahlen. Unter anderem widersprechen hohe Erbschaften dem Leistungsprinzip, das ansonsten hochgehoben wird.

Um die Finanzaufsicht zu verbessern, wurden verschiedene Institutionen wie die Bankenunion oder Wertpapier- und Marktaufsichtbehörde institutionalisiert. Die EZB überwacht nun auch die Banken. Sind diese Maßnahmen ausreichend, auch um schnell auf Krisen reagieren zu können? Welches Instrumentarium würden Sie bevorzugen?

Hansjörg Herr: Die Bankenunion ist ein Fortschritt. Aber die Finanzmarkregulierung insgesamt ist ungenügend. Die Philosophie der Regulierung der Finanzmärkte nach der großen Finanzmarktkrise 2008 war, dass man die Banken etwas regulieren müsse, jedoch das Schattenbankensystem, die Nicht-Bank-Finanzinstitutionen, und die globalen Finanzmärkte nicht. Das war ein großer Fehler.

Nochmal zu dem Ukraine-Einmarsch Russlands. Ist diese europäische Krise nicht ein Beleg dafür, dass wir in Europa viel zu lange nationale Politik betrieben haben, Wirtschaft und Politik immer säuberlich trennen wollten, denken wir an Nordstream 2, und nicht erkannt haben, dass Politik und Wirtschaft zwei Seiten derselben Medaille sind?

Hansjörg Herr: In meiner Auffassung wurde es nach der deutschen Vereinigung verpasst, eine gemeinsame Sicherheitsstruktur mit Russland zu schaffen, die allen Ländern eine freie Wahl des Wirtschaftssystems und des politischen Systems erlaubt hätte, aber keine Ausweitung von Militärbündnissen.

Dieses Versäumnis legitimiert natürlich nicht den Einmarsch Russlands in die Ukraine und die Verschiebung von Grenzen mit militärischer Macht. Ich hoffe, dass trotz des Einmarsches langfristig eine europäische Sicherheitsstruktur geschaffen werden kann mit einem starken und weiter integrierten Europa, zumindest der Länder in der Währungsunion.

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