Russland dementiert Mobilisierung einer halben Million Soldaten
Die ukrainischen Behörden sind aktuell die Hauptquelle deutscher Medien über Vorgänge zur russischen Kriegsführung. Zuverlässig sind sie jedoch nicht immer.
Am 3. Januar machte der ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyi große Schlagzeilen damit, dass er beim Kriegsgegner Russland unbestimmt eine neue Mobilisierungswelle vorhersagte.
Konkreter war zuvor zum Jahreswechsel sein Verteidigungsminister Oleskiy Reznikov geworden, der ankündigte, Russland würde in Kürze seine Grenzen für die Ausreise jüngerer Männer schließen und das Kriegsrecht verhängen.
Sein Nachrichtenchef Kiril Budanov sekundierte, dass konkret am 5. Januar eine neue Mobilisierung in Russland starten würde. Keiner der ukrainischen Vertreter nannte eine konkrete Quelle für seine Story.
Passiert ist seitdem in Sachen "neue Mobilisierungsaktionen" in Russland nichts. Als das Thema drohte, just in das Reich der vergessenen Enten einzuziehen, legte am 7. Januar der ukrainische Geheimdienstleiter Vadym Skibitsky gegenüber der britischen Zeitung The Guardian nach: Russland wolle ab 15. Januar zusätzlich zu den 300.000 Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, 200.000 zusätzliche Soldaten einziehen.
Die Meldung erntete, wie die vorangegangenen, sofort breiten Widerhall in deutschen Zeitungen: Sogar von bis zu einer Million russischen Soldaten war in einigen Berichten zum Jahreswechsel die Rede.
Dementi aus dem Kreml
Was es inzwischen dazu gibt, sind aber keine Anzeichen einer neuen Mobilmachungswelle, sondern ein offizielles Dementi aus Moskau, verbreitet vom regierungseigenen Radiosender Majak.
Kremlsprecher Peskow bezeichnet darin all diese Meldungen als "Sabotage". Ergänzt wurde dieses Dementi durch eine Stellungnahme der russischen Menschenrechtsgruppe Agora, die in Opposition zur Regierung steht und wegen eines Verbots seit 2017 illegal arbeiten muss.
Ihr Leiter Pawej Tschikow bezeichnete im Internet kursierende Informationen über bereits angeordnete Grenzschließungen als unwahr und entsprechende online veröffentlichte Befehle als Fälschungen. Man werde die Leute informieren, sobald es wirklich eine neue Mobilisierungswelle gebe.
Als von Russland angegriffener Kriegsgegner hat die Ukraine ein natürliches Interesse daran, über Nachrichten beim Gegner Verwirrung und Unfrieden zu stiften. Nichts weckt in Russland dermaßen großes Unbehagen in der Bevölkerung, wie eine neue Mobilmachungswelle, über die wieder Hunderttausende Bürger zwangsweise an die Front eines Krieges gerufen werden, den die Mehrheit der Russen laut Umfragen lieber beenden würde, als ihn fortzuführen.
Solche Meldungen über noch mehr russische Invasoren, die in Kürze zu erwarten seien, sind auch ein Signal an den Westen, von dem Kiew sich eine Steigerung der Waffenlieferungen erhofft, ja eine solche sogar häufig anmahnt.
Mit Meldungen über neue Massenmobilmachungen des gemeinsamen Gegners lässt sich die Notwendigkeit solchen Nachschubs besonders dramatisch unterstreichen. So gäbe es also eine nachvollziehbare Motivation für Kiew, solche Nachrichten auch zu lancieren, wenn die zugrundeliegenden Informationen nicht ausreichend belegt sind.
Mobilisierungswellen sind nicht unwahrscheinlich
Das muss jedoch nicht heißen, dass die Äußerungen der ukrainischen Offiziellen auf Fake-News basieren müssen. Denn tatsächlich vermuten auch in Russland viele, dass eine neue Mobilisierungswelle in nächster Zeit kommt, um Verluste auszugleichen und die Kampfkraft der russischen Truppen zu erhöhen.
Der Gedanke einer Grenzschließung zu diesem Anlass ist ebenfalls generell nicht abwegig, da die Auswanderungswelle bei der letzten Mobilisierungsrunde der russischen Armee und Wirtschaft viele potenzielle Krieger und Arbeitskräfte entzog. Da es sich oft um gut ausgebildete Flüchtlinge handelte, ist der daraus resultiernende Brain-Drain ein ernstes Problem für die russische Gesellschaft.
Sollte auch der 15. Januar ohne neue Mobilisierungsrunde ins Land ziehen, hätte dies aber schon ein "Geschmäckle", da Nachrichten von ukrainischen Vertretern in der Berichterstattung deutscher Medien ernst und beim Wort genommen werden – es würde den Eindruck verstärken, dass Repräsentanten der Ukraine Meldungen verbreiten, die weniger mit einer gesicherten Wahrheit zu tun haben als mit einer bestimmten Absicht, die ins taktische Konzept passt. Der Präsident eingeschlossen.