Russland in die EU?

Interview mit dem Historiker Knut Linsel über eine fast vergessene Vision

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In der letzten Woche warben der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe, der General a.D. Klaus Naumann, der Vizeadmiral a.D. Ulrich Weisser und der pensionierte Diplomat Frank Elbe in einem gemeinsamen Papier für eine Aufnahme Russlands in die NATO. In der darauf folgenden Diskussion wurde auch eine alte Idee Charles de Gaulles wiederentdeckt - ein Europa vom Atlantik bis zum Ural. Wir befragten dazu den Historiker Knut Linsel, der sich in seinem Buch Charles de Gaulle und Deutschland unter anderem mit den außen- und europapolitischen Vorstellungen des ehemaligen französischen Staatspräsidenten befasst.

Herr Linsel - wie kam die Idee eines Europa vom Atlantik bis zum Ural zustande?

Knut Linsel: Charles de Gaulle beschäftigte sich als Offizier nach dem Ersten Weltkrieg mehrmals mit geopolitischen Fragen im Zuge der französischen Sicherheitspolitik. Für ihn bestimmte neben den nationalen Interessen immer auch die geopolitische Lage Frankreichs dessen Außenpolitik. Als die USA in den 20er Jahren dem französischen Präsidenten Poincaré die Unterstützung gegen die vermeintliche Revanchepolitik versagten, zog de Gaulle den Schluss, dass das militärische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent auch mithilfe der Sowjetunion hergestellt werden könne. So begrüßte er z.B. 1935 den Pakt zwischen Frankreich und der UdSSR, weil er Frankreich scheinbar Sicherheit gegenüber Deutschland bot.

Konkretisiert hat er seine Idee eines Europa vom Atlantik bis zum Ural damals noch nicht, allerdings finden sich Ansätze dazu in seinem Buch "Vers l'armée de métier" von 1938. Später, z.B. im Dezember 1944, knüpfte er an diese Idee eines französisch-russischen Bündnisses an und benutzte den Begriff "Europa vom Atlantik bis zum Ural", ohne ihn allerdings in die Tat umzusetzen.

Hatte de Gaulle Vordenker?

Knut Linsel: Ja, mehrmals gab es in der Geschichte die Konzeption einer europäischen Vereinigung, die sich nur auf den Kontinent erstreckt und Großbritannien ausschließt. Erwähnt werden kann z.B. Napoleons wirtschaftliche Kontinentalsperre von 1806 bis 1812, bei der es sich allerdings nicht um eine politische oder militärische Vereinigung handelte. Das Prinzip der Autarkie stand im Vordergrund, um die englische Unterstützung für Napoleons Gegner zu unterbinden.

Und was bezweckte de Gaulle mit seinem Vorschlag?

Knut Linsel: Als de Gaulle Frankreich von 1958 bis 1969 regierte, gab es schon die EWG als integrierte Gemeinschaft aus sechs Staaten. Die Integration und damit der Verzicht auf Teile der nationalen Souveränität war de ein Dorn im Auge, ähnlich wie die militärische Integration im Falle der NATO. Deshalb trat Frankreich 1966 aus der militärischen Integration der NATO aus und betrieb gleichzeitig eine "Politik des leeren Stuhls", d.h. nahm an den Konferenzen der EWG nicht mehr teil. De Gaulle verfolgte das Ziel, ein kontinentaleuropäisches Europa unter französischer Führung, gestützt auf die deutsche Wirtschaftskraft, ohne britische Beteiligung in Gestalt einer lockeren Föderation zu vereinigen, ohne die nationale Souveränität der Mitgliedsländer zu begrenzen. Es sollte eher ein politischer, weniger ein ökonomischer oder militärischer Zusammenschluss sein. Da er davon ausging, dass der Kommunismus in Osteuropa eines Tages beendet sein werde und diese Staaten wieder zu freien Nationalstaaten würden, schloss seine Vision beispielsweise ein freies Polen oder Russland ein, ohne dass er erklärt, wie eine Teilung Russlands in eine westliche bzw. östliche "Hälfte" mit dem Ural als Grenze praktisch durchführbar gewesen wäre. Immer wieder sprach de Gaulle vom politischen und militärischen Gleichgewicht in Europa.

Richteten sich diese Bestrebungen gegen die NATO?

Knut Linsel: Zum Teil ja, vor allem gegen den starken Machteinfluss der USA auf Westeuropa. Dies kam zum Ausdruck, als er im Juni 1966 offiziell die UdSSR besuchte und erneut von seiner Vision sprach, Europa bis zum Ural zu vereinigen.

Warum redet heute niemand mehr über eine Aufnahme Russlands in die EU?

Knut Linsel: De Gaulles Idee eines Europa bis zum Ural wirkte schon in den 60er Jahren unrealistisch. Man sollte nicht vergessen, dass Russland nur zum Teil in Europa liegt, aber der größere Teil jenseits des Urals, also außerhalb Europas. Wie sollte ein solches Land in die EU aufgenommen werden?

Ferner ist die EU auch eine Wertegemeinschaft. Die historischen Traditionen der Reformation im 16. Jahrhundert, der philosophischen Aufklärung und der Menschen- und Bürgerrechte des 18. Jahrhunderts haben damals Russland nicht erreicht. Hinzu kommen die Folgen des Kalten Krieges, die politischen Spannungen zwischen Russland und seinen Nachbarn, die ja zum Teil zur EU gehören. Insgesamt stehen heute andere Themen auf der weltpolitischen Tagesordnung.

Außer diesen Hindernissen stünde sicherlich noch die Tatsache im Wege, dass Russland ein Riesenreich bildet, dessen Aufnahme die EU strukturell vollkommen überfordern würde. Man sieht dies schon an den Schwierigkeiten kleinerer Länder, die zuletzt der EU beitraten. Bis heute ist die EU-Osterweiterung, die mit der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns vor ca. zehn Jahren begann, noch nicht perfekt abgeschlossen oder gelungen.

Was für Folgen hätte eine Aufnahmeangebot an Russland ihrer Ansicht nach?

Knut Linsel: Es gäbe wahrscheinlich starke Widerstände in zahlreichen europäischen Ländern, vor allem auch in der Öffentlichkeit.

Würde sich ein Konflikt mit China anbahnen?

Knut Linsel: Dies könnte sein, allerdings spielen dabei sicherlich auch die USA eine Rolle, das einzige weltpolitischen Gegengewicht zum chinesischen Machtzuwachs in den letzten Jahren.

Was halten Sie von dem im Spiegel präsentierten Vorschlag Volker Rühes und anderer Politiker, Russland einen Weg in die NATO zu ebnen?

Knut Linsel: Ich würde eine enge Abstimmung in allen sicherheitspolitischen Fragen mit Russland bevorzugen. Dazu zählen regelmäßige Konsultationen auf der Basis eines soliden militärischen Gleichgewichts.

Aus aller historischen Erfahrung weiß man, dass es nur eine Möglichkeit gibt, den Frieden in Europa und der Welt zu sichern. Und diese besteht im Aufbau und der regelmäßigen Überprüfung eines militärischen Gleichgewichts, wie dies auch Charles de Gaulle bereits wusste.