Russlands Krieg und wir: Höhere Zwecke und falsches Bewusstsein

Angesichts des Krieges in der Ukraine können sich die Deutschen wieder aus tiefster Überzeugung für die militärische Eskalation begeistern. Dahinter steht eine Meta-Erzählung (Teil 2)

Der moderne Staatsbürger richtet sich mit seinem praktischen Ja zu den Verhältnissen in die Welt so ein, wie er sie mit ihren Verhältnissen vorfindet. Er richtet sich dementsprechend auch theoretisch und gedanklich darauf ein, dass die kollektive Identität ohne weitere Frage sein (Über-) Lebens-, sein Existenzmittel sei.

In diesem, auch Allgemeinwohl oder "unser Land" genannten "Wir" und des in ihm beheimateten staatlichen Gewaltmonopols, das dieses "Wir" und die in ihm vorfindlichen Verhältnissen konstituiert, aufrechterhält und garantiert, ist er doch geboren und beheimatet; hier kann er leben, bestehen und sich bewähren; hier darf er sich entlang der erlaubten Freiheit mit den Mitteln, über die er faktisch verfügt, bewegen und betätigen.

Solches Freiheitsangebot einmal an- und hingenommen schließt ein, dass dem modernen Staatsbürger auch in seiner unmittelbaren und theoretischen Vorstellung, in seinem praktischen Alltagsbewusstsein und Alltagsleben, dieses "unser Wir" notwendig zum (Über-) Lebens-Mittel, zur unausweichlichen Voraussetzung seiner Existenz gerät.

Denn indem er sich den vorgegebenen Verhältnissen anpasst, gebraucht der moderne Staatsbürger seinen Verstand ganz pragmatisch, realistisch und instrumentell: Das Land mit seinen Gegebenheiten wird in seiner Vorstellung zu seinem Existenz- und Lebens-Mittel; und im Zuge dessen leistet er sich die Abstraktion, nicht mehr objektiv danach zu fragen, wie dieses Wir, wie dieses Land, eigentlich beschaffen ist: Er nimmt es hin, so wie es eben ist.

Statt von dieser Abstraktion zu lassen, will der moderne Staatsbürger die ihm gewährte Freiheit nutzen und die Gegebenheiten, wie sie einfach da und in der Welt sind, benutzen. Die Gegebenheiten und Chancen, die staatliche Garantiemacht des Ganzen und das Land, in dem es ihn per Geburt zufällig verschlagen hat, erscheinen ihm als die notwendigen Mittel seines (Über-)Lebens, seiner Existenz.

Allem voran die für die Mehrheit der Bevölkerung unausweichliche Lohnarbeit. So ergreift und begreift er diese ihm dargebotenen Mittel, so werden sie ihm wichtig, so werden sie ihm wertvoll, so erhebt er sie als ihm unbedingt zu Gebote stehende Mittel.

So genommen hat er je schon begonnen, sich in dem Land, in dem er per Geburt ganz zufällig lebt, zu Hause zu fühlen und für es Partei zu ergreifen. Jetzt erscheint es ihm als "sein" Land. Dass dieses Land in Gestalt von Staat, Kapital, Standort und Nation, nicht um das Wohlergehen des Einzelnen oder der Bevölkerung willen in der Welt ist; dass deshalb das Ja zu den Verhältnissen und das Sich-Einrichten und Zurechtkommen darin, nur um den Preis der Unterwerfung unter das "große Wir" zu bewerkstelligen ist, das sieht dieses Bewusstsein in seiner Parteinahme für das Land so nicht mehr.

So macht sich der Staatsbürger im Ergreifen der vorgefundenen Verhältnisse als Mittel seiner Existenz zum Mittel der anderen, der ihm überlegenen Seite in Gestalt von Staat, Kapital, Standort und Nation. Im Frieden als "Human-Kapital" und "Standort-Ressource". Im Krieg, der von Zeit zu Zeit aus berufenen Mund verkündet wird, als lebendige Tötungswaffe und Zielobjekt der Tötungswaffen der gegnerischen Seite. Mit diesem Verkennen der Wirklichkeit ist das falsche, das staatsbürgerliche Selbstbewusstsein endgültig geboren.

Der staatsbürgerliche Gebrauch des Verstandes täuscht sich also über das Verhältnis von Mittel und höheren Zwecken. Ein Irrtum, ein falsches Bewusstsein, mit einigen Konsequenzen.

Ein Irrtum und seine Folgen

Das Ja zur Welt und die aus ihm erwachsene unmittelbare und theoretische Vorstellung, die Welt, wie sie nun einmal ist, allem voran die Welt, wie sie von der heimischen Staatsgewalt eingerichtet ist, sei zum Zweck des Wohlergehens des Einzelnen eingerichtet und deshalb das einzig gangbare Lebens-Mittel für ihn, den modernen Menschen oder Staatsbürger, ist nichts als ein Fehlschluss, ein folgenschwerer Irrtum.

Ein sich irrendes, ein falsches Bewusstsein, hervorgebracht durch einen Gebrauch des Verstandes, der in seiner Anpassung an die heimischen Verhältnisse, das unser "Wir" oder Land in seiner Vorstellung als Mittel nimmt, es deshalb anerkennt und will. Ein falsches Bewusstsein, das das Land, das ihm nicht gehört und dessen Eigentümer oder Besitzer der Staatsbürger nicht ist, bewahren, schützen und verteidigen will: Weil es ihm als sein unumgängliches Lebens-Mittel, als sein "höchstes Gut" erscheint.

Auf der Grundlage dieses Irrtums, dieser Selbst-Täuschung, bildet das staatsbürgerliche Bewusstsein die Vorstellung und innere Haltung heraus, im Interesse der vermeintlichen Sicherung der eigenen Existenz gegen jede vorgestellte oder offenbare Bedrohung, die es wahrzunehmen glaubt und die ihm die offiziellen Priester der Erinnerung in ihrer Eigenschaft als Herren über Krieg und Frieden jeweils präsentieren, müsse er das Land, das Wir, in dem es lebt, verteidigen.

Verteidigen notfalls mit aller zur Verfügung stehenden Gewalt, mag sie noch so rücksichtslos, noch so unmenschlich sein. Verteidigen mittels ausgerechnet des Krieges, den andere als es selbst bestellen und in dem der Einzelne wie das gesamte Volk als nichts anderes eingeplant und eingesetzt ist, denn als lebendiges Werkzeug im schonungslosen Kampf um Sieg oder Niederlage zwischen Staaten und Nationen.

Dieser zu jeder Gewalttätigkeit bereite Verteidigungswille ist die Konsequenz dessen, dass sich das staatsbürgerliche Bewusstsein in eins sieht und in eins macht mit dem Interesse der heimischen Staatsgewalt und dem Land, dem die heimische Staatsgewalt vorsteht und das es regiert.

Soweit bringt es das falsche Bewusstsein: Indem es das Land, in dem es heimisch ist, in der Verkennung und Verkehrung des Verhältnisses von Mittel und höheren Zwecken als sein Existenz- und (Überlebens-) Mittel nimmt, wird es endgültig zum Parteigänger, Befürworter, Mitmacher und Mitstreiter des heimischen Wir. Zum willigen Vollstrecker all der Gewalt, die das Land und der Krieg von ihm fordern.

Das ist der fruchtbare Nährboden, der es ermöglicht, dass die in den Nato-Ländern eingemeindeten Völkerschaften gleichermaßen wie die Völkerschaft hierzulande "als Parteigänger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura) auf die Straße gehen und im von der Nato und ihren Machern inszenierten Chor "Freiheit für die Ukraine" einstimmen. Ein fruchtbarer Nährboden, auf dem die vorgestellten Bedrohungen und Bilder vom außenpolitischen Feind, wann immer gewünscht, nur so blühen und gedeihen.

Ein fruchtbarer Nährboden, der zeigt, warum die westlichen Völkerschaften auf die "sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder bedauerlicherweise (herein-)fallen." (Björn Hendrig): Denn was augenscheinlich "unser Wir" bedroht, das bedroht "uns alle". Also auch mich, meine Existenz, mein Leben, das Leben meiner Liebsten – so der staatsbürgerliche Gedanke.

Das Tor für die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrem Interesse, den Vorkriegs- oder Kriegszustand auszurufen, steht nunmehr angelweit offen. Lange schon, bevor der Krieg in der Ukraine begann. So ist er beschaffen, der gegenwärtige "Geisteszustand" (Renate Dillmann) in der westlichen Hemisphäre.

In der Gewissheit, dass die Maxime eines an reiner Objektivität orientierten Gebrauchs von Verstand und Vernunft, eben die in diesem Sinn "Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft" (Kant, a.a.O.: 281) weit und breit nicht in Sicht ist, kann die Kriegspropaganda unter allgemeinem Zunicken gebieten:

Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung .

Frank Walter Steinmeier, 13.2.2022

Und unter allgemeiner Zustimmung kann die Kriegspropaganda vom Gebrauch des Verstandes verlangen:

Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen

Annalena Baerbock, 1.3.2022

Öffentliche Meinungsbildung im Ukrainekrieg – in vorauseilenden Gehorsam

Solche Aufforderungen lassen sich die modernen Meinungsmacher nicht zweimal sagen. Entspricht es doch ganz ihrem journalistischen Selbstverständnis und beruflichen Ethos, das "größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein" (Hegel) und die im "Wir" verkörperten Staatsinteressen als um das Wohlergehen eines jeden Einzelnen bemühte Interessen zu übersetzen.

Haben die Erzählungen der vierten Gewalt die Sorge um das "Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs" (J. Schillo), des "unser Wir", zum Zweck und Inhalt, dann sind Bild und Sprache in der massenmedialen Erzählung nur noch geschickt und mit Bedacht auszuwählen, um beim staatsbürgerlichen Bewusstsein Gehör und Zustimmung zu finden: das oben beschriebene irrtümliche und falsche, das staatsbürgerliche Bewusstseins vorausgesetzt.

In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine geht es vor allem darum: Die unser "Wir" bedrohenden Subjekte und Ereignisse sind im spezifischen Medium des journalistisch aufgemachten (Feind- oder Bedrohungs-) Bild auch sprachlich so zu übersetzen und zu gestalten, dass der Feind oder die Bedrohung mehr oder weniger greifbar, unmittelbar nahe ist: auf dem Sprung, unser "Wir", dieses höchste Gut, zu erobern oder zu zerstören.

Womit die Böswilligkeit, der Absicht und des Charakters des Feindes oder der Bedrohung im Grunde schon genügend beschrieben sind. Das zu einem appellativ-dramatischen Gemälde auszumalen, macht die journalistische Kunst aus. Die ist umso wertvoller für das Staatsinteresse an Krieg und Gewalt, als auf dem Nährboden des falschen Bewusstseins der Wille erweckt und erwacht, unser "Wir" oder Land notfalls gegen Feind und Bedrohung zu verteidigen. Das verlangt allerdings gewisse Korrekturen in den bisherigen Tugenden des Mitmachens und sich Bescheidens.

Gefordert sind dafür zwar nicht ganz unbekannte, in ihrer Radikalität dennoch ungewohnte, neuartig anmutende Sitten des Denkens, des Nachdenkens und des Verhaltens. Unterstellt ist dabei ohnehin, dass die öffentliche Meinungsbildung sich eines konstruktiven, eines "allein erlaubten Gebrauchs" (Kant. a.a.O.: 275) ihres Verstandes befleißigt; und dergestalt in Sorge um das heimische Wir, dessen Vorankommen und Erfolg nach innen und außen zum Maßstab und Wahrheitskriterium ihrer Informationstätigkeit macht.

Nunmehr aber, wo es darum geht, das Volk auf die Realität des (Ukraine-)Krieges einzustimmen und sie für die Kriegstaten und Kriegsfolgen, die ihnen die für Kriegszeiten und Krieg allein zuständigen Entscheidungsträger in Washington, Berlin, Brüssel und im Nato-Hautpquartier auferlegen, zu gewinnen und bei Laune zu halten, hat sich die öffentliche Meinungsbildung am unlängst ausgegebenen "klaren Wertekompass" (A. Baerbock) zu "orientieren" (Kant).

Zum einen ist die Tugend der Toleranz, das Zulassen, Erdulden und Ertragen anderer Meinungen und pluraler Sichtweisen angesichts des Krieges in der Ukraine hintan zu stellen. Zurückzustellen zugunsten der puren Parteilichkeit und Parteinahme für die dem Publikum dargebotene Meta-Erzählung der Nato und ihrer Wahrheit, die darin besteht, dass nicht von einer Einkreisung Russlands via Nato, sondern umgekehrt von einem russischen Eroberungsfeldzug zu reden ist.

Diesem Erfordernis kommt die öffentliche Meinungsbildung auftragsgemäß und ihrem Berufsethos entsprechend nach. Vorzugsweise Bilder von weinenden, verstörten oder traumatisierten ukrainischen Kindern und ihren verzweifelten Müttern belegen nicht die Unmenschlichkeit eines Krieges, sondern die des (russischen) Feindes.

Zum anderen durch sorgfältig ausgewählte Gäste, Politiker, Professoren, welt- und geopolitischen Experten aus den Denk-Fabriken, die in den zahllosen Talkshows allesamt dasselbe zu berichten wissen. Die Kriegsberichterstatter vor Ort runden das Bild des (russischen) Feindes und der Bedrohung für uns alle ab.

Im vorauseilenden Gehorsam fühlt sich die öffentliche Meinungsbildung weiter dazu berufen, die Damen und Herren über Krieg und Frieden, über Leben und Tod mit Fragen der Art zu bedrängen: Warum hat Deutschland solange gezögert, endlich Waffen an die ukrainische Regierung zu liefern und Nord Stream 2 zu beenden? Will Deutschland wirklich keine Flugverbotszone wagen?

Greifen die politökonomischen Sanktionen totalen Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation weit genug, um in Russland möglicherweise über die Zerstörung seiner ökonomischen Grundlagen einen Staatsumsturz mittels der massiven Verarmung und Verelendung der russischen Bevölkerung zu bewerkstelligen? Auch hier eine ausgeprägte Liebe zur kriegerischen Gewalt: Zu einer Gewalt, die immer schon gute Gründe für sich weiß und deshalb gerechte gegen unrechtmäßige Gewalt ist.

Was die staatlicherseits "über Jahre aufgebauten Hassbilder" (Björn Hendrig) angeht, so fällt die öffentliche Meinungsbildung auf diese Bilder des Hasses nicht herein: In sittlich-ethischer Verantwortung für das "große Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck) und dessen jederzeit gewaltbereites und kriegsträchtiges Gelingen, gebraucht die öffentliche Meinungsgbildung ihren Verstand und ihre Vernunft dahingehend, dass sie an der Konstruktion solcher Bilder konstruktiv mitarbeitet und die solcherart erstellten Bilder des Hasses dem Publikum präsentiert und transportiert.

So ist der von den politischen Machern konstruierte, imaginäre Schuldige auch massenmedial bestätigt, um im kollektiven Gedächtnis der westlichen Völkerschaften rund um die Uhr allgegenwärtig zu sein.

Dass die Bedrohung überhaupt exklusiv von außen kommt, gegen die die abendländisch-westliche Freiheit und "Lebensform" (Harry S. Truman, 1947) mit Nato-Bündnis unter US-Führerschaft verteidigt werden muss, nicht nur in der Ukraine, sondern aus Verantwortung für den Frieden in der Welt und um der Menschlichkeit willen, weltweit: Diese Erzählung ist als die alles dominierende Meta-Erzählung in das kollektive Gedächtnis der in der Nato und im Westen eingemeindeten Völkerschaften dank seit 1945 währender Erinnerungsarbeit durch die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrer berufenen Assistenten eingraviert, eingebrannt.

Das erleichtert die Beantwortung der Frage, wer "schuld" am Krieg ist, ungemein. In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine in besonders radikaler Weise: Gerade in diesem Krieg eröffnet die Konstruktion und Benennung des imaginären Schuldigen das moralisch unermesslich ergiebige Feld der Kriegschuldfrage und das mit ihr einhergehende Vorab-Urteil, wer sich ganz gewiss Kriegsverbrechen schuldig macht.

Denn diese Gewissheit haben die allein zuständigen politischen Entscheidungsträger über Krieg und Frieden zu Recht: Einen Krieg ohne Kriegsverbrechen gibt es nicht.