Sachbücher des Monats: Juli 2018
Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung
Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt, dem ORF-Radio Österreich 1 und Telepolis.
Michel de Montaigne
Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581
Kaum waren seine berühmten Essays erschienen, da brach Michel de Montaigne zu seiner großen Reise auf, der wir sein "Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581" verdanken. Ob in seinem berühmten Turm bei der neun Jahre währenden Niederschrift seiner Essays oder auf seiner Tour durch Italien: das Unterwegssein gehörte für Montaigne zum Dauerzustand seiner Existenz. Montaignes genauer Blick in toleranter "Aufmerksamkeit und Gelassenheit" lässt sein Reisetagebuch zur Quelle der Kulturgeschichte werden - wobei ihn Kunstführerqualitäten und Berichte über Sehenswürdigkeiten wenig interessieren. Er nimmt Landschaft, Land, Leute und Lebensweisen in Augenschein - mit Hochachtung vor dem "niederen Volk": Koch- und Tischsitten in den Gasthöfen haben es ihm angetan, er studiert die Bordelle von Venedig und Florenz oder erlebt Hinrichtungen und Teufelsaustreibungen. Kaum eine Gelegenheit zu Trink-, Bade-und Schwitzkuren lässt der reisende Humanist und Erkenntnissucher aus - gequält von seinem Nierenleiden. So gut wie auf dieser Reise fühlte er sich nie.
Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett.
Die Andere Bibliothek, 496 Seiten, € 24,00
Daniel C. Dennett
Von den Bakterien zu Bach - und zurück
Die Evolution des Geistes
Was ist der menschliche Geist und wie ist er überhaupt möglich? Seit über fünfzig Jahren wirbt und streitet Daniel C. Dennett, Fürsprecher von Materialismus, Aufklärung und Wissenschaft, für seine Ansichten. Mit diesem Buch wagt er noch einmal einen Rundumschlag von den Ursprüngen des Lebens über die Geistesgrößen der Menschheit wie Johann Sebastian Bach, Marie Curie oder Pablo Picasso bis hin zur Künstlichen Intelligenz. Dennett zeigt, wie eine vollkommen geistlose genetische und kulturelle Evolution es geschafft hat, zunächst die Einzeller, dann Pflanzen und Tiere sowie schließlich den Geist, die Kultur und das Bewusstsein hervorzubringen. Und er schießt dabei gegen Kreationisten, Antidarwinisten und alle anderen, denen ihr dogmatischer Schlummer wichtiger ist als die Wahrheit.
Aus dem Amerikanischen von Jan-Erik Strasser
Suhrkamp Verlag, 512 Seiten, € 34,00
Siri Hustvedt
Die Illusion der Gewissheit
Was ist der Verstand? Wie unterscheidet er sich vom Körper? Kann der Verstand auf Neuronen im Gehirn reduziert werden oder nicht? In ihrem Essay nimmt sich Siri Hustvedt das uralte, noch immer nicht gelöste Geist-Körper-Problem vor und macht deutlich, wie sehr die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage tiefgreifende Bedeutung für unser Verständnis von uns selbst haben. Mit ihrem multidisziplinären Zugang zeigt Hustvedt, wie sehr ungerechtfertigte Annahmen über Körper und Geist das Denken der Neurowissenschaftler, Genetiker, Psychiater, Evolutionspsychologen und der Forscher zur Künstlichen Intelligenz verzerrt und verwirrt hat. In diesem Essay führt Hustvedt den Leser in verschiedene körperintegrierende Theorien von Bewusstsein ein, die die aktuelle Debatte über Verstand und Körper verändern. Gleichzeitig betont sie, dass keine Idee unantastbar ist.
Aus dem Englischen von Bettina Seifried.
Rowohlt Verlag, 416 Seiten, € 24,00
Stefano Mancuso
Pflanzenrevolution
Wie die Pflanzen unsere Zukunft erfinden
Um unsere eigene Zukunft auf der Erde zu sichern, müssen wir uns von den Pflanzen inspirieren lassen. Denn Pflanzen haben in Jahrmillionen vollkommen andere Überlebensstrategien entwickelt als wir: Wo der Mensch auf zentralisierte, hierarchische Lösungen setzt, handeln Pflanzen flexibel, dezentral und als Gemeinschaft. Sie verbrauchen sehr wenig Energie, überleben unter extremen Bedingungen, lernen aus Erfahrung und haben dabei Tausende Lösungen gefunden, die ganz anders sind als die der uns vertrauteren Tierwelt. Wie die Pflanze Licht einfängt und Energie nutzt, dient schon heute der Architektur als Inspiration; wie das Wurzelgeflecht Informationen aufschließt und verarbeitet, macht es zum Modell eines kollektiven Organismus. Von der Konstruktion neuer Roboter bis zur Organisation von großen Gemeinschaften gibt es keine bessere Inspirationsquelle als die Pflanzen. Die Strategien, mit denen sie ihre Funktionen regeln, sind ein außergewöhnlich effizientes Paradigma für ein nachhaltiges Leben, für eine demokratische Zukunft.
Übersetzt von Christine Ammann.
Verlag Antje Kunstmann, 256 Seiten, € 24,00
David Gugerli
Wie die Welt in den Computer kam
Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit
Damit die Welt mit Computern verwaltet und organisiert werden kann, muss sie in den digitalen Raum der Maschinen überführt werden. David Gugerli erzählt die Geschichte dieses großen Umzugs anhand von Beispielen. Er schildert, wie Techniker, Manager, Berater und User miteinander gestritten haben, wie sie ihre Wirklichkeit formatiert und welche neue Unübersichtlichkeit sie dabei erzeugt haben. Sie haben Rechner verbunden, Daten kombiniert, Programme umgeschrieben und aus dem Computer fürs Personal einen Personal Computer gemacht - warum und wie, zeigt dieser Essay.
S. Fischer Verlag, 251 Seiten, € 24,00
Amnesty International Sektion der Bundesrepublik (Herausgeber)
Amnesty International Report 2017/18
Zur weltweiten Lage der Menschenrechte
In vielen Staaten gehören Unterdrückungsmaßnahmen schon fast zur Routine: Regierungen unterbinden freie Meinungsäußerungen in der Presse und im Internet unter Hinweis auf die nationale Sicherheit. Sie gehen gegen Kritiker vor, verhaften Journalisten und andere, bedrohen sie mit Folter und manchmal mit Tod. Diese Politik, die das Menschenrecht der Meinungsfreiheit massiv verletzt, gab es in dem weiterhin von Kriegen und Flüchtlingsnot gekennzeichneten Jahr 2017 auf allen Kontinenten. Der Report gibt Auskunft über die Situation der Menschenrechte in ca. 160 Staaten und ist eine Grundlage für alle, die sich für die Menschenrechte interessieren und sie durch politische Entscheidungen oder freiwilliges Engagement verändern wollen.
S. Fischer Verlag, 512 Seiten, € 14,99
Wendy Brown
Mauern
Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität
Warum bauen immer mehr Staaten eine Mauer, wo doch zugleich im Zeichen von Globalisierung und digitaler Vernetzung seit Jahren eine Welt ohne Grenzen beschworen wird? Wendy Brown geht dieser paradoxen Entwicklung auf den Grund.
Ein US-Präsident, der verspricht, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu bauen; rechtspopulistische Parteien, die die "Festung Europa" gegen Flüchtlinge absichern wollen; gewaltige Mauerbauprojekte zwischen Israel und Palästina, Südafrika und Zimbabwe, Indien und Pakistan oder Irak und Saudi-Arabien: Eine neue Abschottung hat weltweit Konjunktur, obwohl das Ausmaß globaler Vernetzung es illusorisch erscheinen lässt, durch den simplen Bau einer Mauer die Probleme der Gegenwart lösen zu können. Diese neuen Mauern gleichen für Brown daher eher theatralischen Inszenierungen und sind Ausdruck eines Bedürfnisses nach Übersichtlichkeit und einfachen Lösungen in einer immer komplexer werdenden Welt. Sie markieren einen schmerzhaften Niedergang nationaler Souveränität.
Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann.
Suhrkamp Verlag, 260 Seiten, € 28,00
Jürgen Elvert
Europa, das Meer und die Welt
Eine maritime Geschichte der Neuzeit
Europa wurde in der Antike vom Meer her erschlossen. Die heutige europäische Zivilisation entwickelte sich jedoch in der Neuzeit, in einem ständigen Dialog mit den außereuropäischen Welten, die von Seefahrern, Entdeckern und Kaufleuten in den europäischen Horizont einbezogen wurden. Das Meer verband Europa und Außereuropa miteinander: Schiffe brachten europäische Güter und europäisches Wissen in die Welt und Informationen aus der Welt nach Europa. Das neue Weltwissen wurde hier verarbeitet und sorgte so dafür, dass eine völlig neue Wissenskultur entstand. Auch unser Wohlstand ist fest an die Freiheit der Meere geknüpft. Nachdem der Mensch lange allzu sorglos mit dem Meer als Ökosystem umgegangen ist, beginnen wir jetzt zu begreifen, dass unser aller Zukunft vom Meer abhängt.
Deutsche Verlags-Anstalt, 591 Seiten, 45,00 €
Cyprian Broodbank
Die Geburt der mediterranen Welt
Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter
Seit der Frühzeit des Menschen hat das Mittelmeer die Welt unserer Vorfahren nachhaltig geprägt. Der Archäologe Cyprian Broodbank entwirft ein historisches Panorama dieses Meeres - von den Tagen der ersten Begegnung der Hominiden mit dem neuen Lebensraum vor 1,5 Millionen Jahren bis zum Beginn der Klassischen Antike. Cyprian Broodbank begleitet die ersten Menschen, die sich bereits in Einbäumen auf die See wagten, besucht Fischer, Bauern und Handwerker in ihren Dörfern und die Machtzentren der Alten Welt, deren Herrscher und Eliten Rohstoffe und andere Schätze aus "Übersee" begehrten.
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber.
C. H. Beck Verlag, 952 Seiten, € 44,00
Peter Michalzik
1900
Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies
Peter Michalzik zeichnet in "1900" ein Panorama vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Er bringt uns das Denken und Leben bekannter Persönlichkeiten nahe. Ob die Richthofen-Schwestern oder der halluzinierende Friedrich Nietzsche, ob der einsiedlerische Hermann Hesse oder der schlaflose Max Weber - sie alle dachten das Leben neu und kreierten eine Gegenkultur, die bis heute wirksam ist. Reformpädagogik und Körperkult, Psychologie und freie Liebe, Pazifismus, Wellness und Vegetarismus - all dies entdeckten zivilisationskritische Künstler, Intellektuelle und Visionäre vor über hundert Jahren.
Dumont Verlag, 414 Seiten, € 24,00
Besondere Empfehlung des Monats Juli von Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer:
Bettina Zimmermann
con tutta forza
Bernd Alois Zimmermann: Ein persönliches Portrait
Mit einer charakteristischen Partitur-Spielanweisung - "con tutta forza": mit aller Kraft - betitelt Bettina Zimmermann die "persönliche Biografie" ihres Vaters Bernd Alois Zimmermann (1918-1970), eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, mit dessen wichtigsten Kompositionen - darunter die Jahrhundert-Oper "Die Soldaten" - auch eine Theorie der Kunst-Vielfalt und philosophische Überlegungen in die Musikgeschichte Einzug hielten, die als "Pluralismus" und Metapher von der "Kugelgestalt der Zeit" zu Begriffen wurden.
Dieses "persönliche Portrait" ist die Rekonstruktion der privaten und beruflichen Welt dieses Jahrhundertkomponisten in einem Album aus Text- und Bilddokumenten. In "suchendem Kombinieren" stellt das Buch die neue Musik der Nachkriegszeit und das Leben in den 50er und 60er Jahren in den größeren Zusammenhang des Künstlerlebens zwischen der Geburt 1918 und dem selbst gewählten Lebensende 1970 und gibt damit zugleich ein Beispiel für befreiende Erinnerungsarbeit.
Helwig Schmidt-Glintzer
Begleitet und mit einem Nachwort, Kurzbiographien und Werkkommentaren von Rainer Peters.
Wolke Verlag 464 Seiten, € 34,00
Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter (Wien); Peter Ehmer, WDR 5; Dr. Eike Gebhardt; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hörisch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Elisabeth Kiderlen; Jörg-Dieter Kogel; Prof. Dr. Ludger Lütkehaus; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Uni Stuttgart; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, TELEPOLIS; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz; Prof. Dr. Joachim Treusch, Jacobs-University, Bremen; Dr. Andreas Wang; Michael Wiederstein, Schweizer Monat; Prof. Dr. Harro Zimmermann; Stefan Zweifel, Schweiz
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