Sarrazin für Fortgeschrittene
Der Bestseller "Deutschland von Sinnen" des Katzenbuchautors Akif Pirinçci markiert den fortschreitenden Barbarisierungsprozess innerhalb des deutschen Rechtspopulismus
Liebe ausländische Mitbürger! Es gibt nun einen gangbaren Weg, um auch als Ausländer - oder als Nachkomme von Immigranten - in Deutschland zu Anerkennung, Geld und Ruhm zu gelangen. Man muss sich hierbei nur seines Gewissens entledigen und viele zivilisatorische Hemmungen abwerfen: Es gilt schlicht, die Ressentiments, Vorurteile und fixen Obsessionen der schweigenden Mehrheit möglichst lautstark und vulgär nachzuplappern, die diese am Stammtisch oder in anonymisierten Internetforen von sich gibt - und in der breiten Öffentlichkeit (noch) nicht zu artikulieren versteht.
Diesen Weg beschritt der türkischstämmige Autor Akif Pirinçci, der es mit seinem Machwerk "Deutschland von Sinnen" immerhin auf den Spitzenplatz der Amazon-Bestsellerliste schaffte. Wieder mal erstürmte ein regelrechtes Hetzbuch die Verkaufscharts, in dem sich wüste Angriffe und Pöbeleien gegen alle möglichen Minderheiten mit einer erzreaktionären, ins Faschistische abdriftenden Weltanschauung paaren. Schon die ersten Zeilen dieses Machwerks lassen erahnen, dass der Autor hier buchstäblich von Sinnen ist: "Deutschland, o du goldenes Elysium! Du kraftvoller Stier!"
Dieser an eine Realsatire grenzenden Vergötterung des "Heiligen Deutschland", seiner "starken deutschen Söhne und Töchter", der fleißigen Männer und Frauen sowie der deutschen Wälder und Wiesen folgt der literarische Amoklauf gegen alles, was nach Auffassung des Autors diese heile deutsche Welt kontaminiert. Neben Schwulen und Lesben, Umweltschützern und Arbeitslosen, Feministinnen und "Gutmenschen" giftet der türkischstämmige deutsche "Intellektuelle" - der für einen Großteil seiner neuen Leser selbstverständlich für immer ein Türke bleiben wird - vor allem gegen angeblich integrationsunwillige Ausländer und das als zu lax empfundene deutsche Ausländerrecht.
Den in Deutschland lebenden Ausländern verordnet Pirinçci - mit Ausnahme der Essgewohnheiten und der Religion - die totale Assimilation. Von Diskriminierung und Xenophobie hat der vermögende türkischstämmige Katzenbuchautor in Deutschland - dem Land des Nationalsozialistischen Untergrunds - noch nie gehört. Millionen Migranten möchte der Migrantensohn "ein Ticket spendieren" und sie abschieben, "bevor sie uns die Haare vom Kopf fressen". Wer sich unter den Heerscharen marginalisierter Migranten in Deutschland nicht eingliedert, keine Karriere wie Herr Pirinçci macht ("Jeder ist seines Glückes Schmied") und womöglich auch noch auf Sozialleistungen angewiesen sei, der sei an seiner Lage selbst schuld. Solche marginalisierten Menschen, die auch noch kein richtiges Deutsch sprechen, seien "eine Behinderung".
Amoklauf gegen Gutmenschen und Ausländer
In Kommentaren und Rezensionen zu dem Machwerk werden immer wieder Parallelen zu Thilo Sarrazin gezogen, der mit seinen rassistischen, islamfeindlichen und sozialdarwinistischen Bestsellern dem Rechtspopulismus zum öffentlichen Durchbruch in Deutschland verhalf. Doch wieso kann nun ein "Türke" auf diesem rechtspopulistischen Meinungsmarkt dermaßen große Verkaufserfolge erzielen?
Den Erfolg seines in Buchform gepressten Amoklaufs gegen "Gutmenschen" und "Ausländer" verdankt der Autor selbstverständlich vor allem dem Umstand, dass er selber von seiner neurechten Leserschar als ein Ausländer wahrgenommen wird. Die Bestätigung der eigenen Ressentiments gegenüber Ausländern durch einen Ausländer verschafft diesem beständig wachsenden reaktionären Milieu einen ganz besonderen Kick, da hier anscheinend die endgültige Bestätigung dieser Ressentiments erfolgt. Wenn das Objekt des fremdenfeindlichen Hasses - der bei der Xenophobie ja kollektiv eine ganze betroffene Menschengruppe erfasst - diesen Hass als berechtigt bezeichnet, dann erübrigt sich für den Ausländerhasser jedwede weitere Diskussion. Selbstverständlich hat die rechte Szene dieses Machwerk längst instrumentalisiert.
Zudem kann sich jeder Halbfaschist, jeder rechte Stammtischbruder künftig hinter Herrn Pirinçci verstecken, wenn er gegen Migranten hetzen möchte. Die entsprechenden Argumentationsmuster sind bekannt: Wenn selbst der "Türke" Pirinçci Millionen von unbotmäßigen Ausländern deportiert sehen wolle, so würde man dies ja wohl auch sagen können. Diese rechte Taktik, öffentliche Hetze gegen Minderheiten unter Zuhilfenahme umstrittener Äußerungen von Mitgliedern eben dieser Minderheiten zu üben, ist auch nicht gerade neu.
In Deutschland wird diese Ressentimententladung "über Bande" zumeist gegenüber der jüdischen Community praktiziert. Ein Beispiel: All jene Bundesbürger, die den Juden Auschwitz immer noch nicht verzeihen können, reagierten geradezu begeistert auf Veröffentlichung des Buches "Die Holocaust-Industrie" des jüdischen Politikwissenschaftlers Norman Finkelstein. Hierin behauptete Hinkelstein die Existenz einer industrieartig geformten jüdischen Lobby, die sich darauf spezialisiert habe, möglichst hohe Profite aus den Entschädigungszahlungen für Holocaustopfer herauszuschlagen. Das deutsche Nachkriegsressentiment gegenüber den Juden, wonach sie Auschwitz und das schlechte deutsche Gewissen instrumentalisieren würden, um "abzukassieren", schien nun seine Bestätigung aus der Feder eines Juden zu erhalten.
Der mit einem pseudowissenschaftlichen Schleier verhüllte Hass hat ausgedient
Neben der Tendenz, öffentlich tabuisierte Hetze gegen Minderheiten durch die Mitglieder dieser Minderheiten zu verbreiten, war es die Brutalität der Ausfälle Pirinçcis, die sein Buch zu solch einem Erfolg werden ließ. Die Dosis des Hasses muss erhöht werden, da sich mit der Zeit ein massenmedialer Abnutzungseffekt einstellt. Thio Sarrazins Bücher bemühten sich noch, die postulierte Minderwertigkeit von Arbeitslosen oder Muslimen unter Rückgriff auf die absurdesten sozialdarwinistischen und kulturalistischen Hirngespinste pseudowissenschaftlich zu legitimieren. Selbst die absurdesten Hervorbringungen Sarrazins - wie sein Nebelfaktor, der die Haushaltsdisziplin einer Volkswirtschaft in Zusammenhang mit dem Nebelaufkommen brachte (Wer ist schuld am Krisenausbruch?9 - erhoben den Anspruch einer wissenschaftlichen Wahrheit, die in einer entsprechend nüchternen Weise vorgetragen wurde.
Diese "kopflastige" Verpuppung des Hasses auf das Andersartige hat sich im massenmedialen Medienbetrieb, der nach immer neuen Extremen giert, längst erschöpft. Das jüngste Buch Sarrazins ("Tugendterror"), in dem der Bestsellerautor und Talkshowdauergast sich von einer politisch korrekten Gesinnungspolizei mit einem Sprechverbot belegt sieht, konnte trotz aller Provokationen nicht mehr den erhofften Medienrummel entfachen. Sarrazin, der den Rechtspopulismus in der deutschen Öffentlichkeit etablierte, wurde durch den Medienbetrieb inzwischen verdaut und ausgeschieden. In einem ihrer wenigen lichten Momente, die der neoliberal deformierten "Tageszeitung" noch vergönnt sind, fasste diese die Symbiose zwischen der "Medienhure" Sarrazin und dem Medienbetrieb im Sommer 2012 genial zusammen:
Thilo Sarrazin wird inzwischen von Journalisten benutzt wie eine alte Hure, die zwar billig ist, aber für ihre Zwecke immer noch ganz brauchbar, wenn man sie auch etwas aufhübschen muss.
Inzwischen hat mit Pirinçcis eine neue, unverbrauchte Figur die Rolle Sarrazins übernommen - und diese Rolle besteht im massenmedial vermittelten Zivilisationsbruch. Der bei Sarrazin noch mit einem pseudowissenschaftlichen Schleier verhüllte Hass wird nun unter Aufwendung brutaler Fäkalsprache laut und direkt herausgeschrien. Auf empirisches Material wird verzichtet, stattdessen regiert hier das nackte hasstriefende Ressentiment. Die Dosis wird erhöht - und die pseudowissenschaftliche Legitimierung weicht der verbalen Aggression. Sarrazin - wie auch Pirinçcis - sind somit als Durchgangsstadien einer krisenbedingten faschistoiden Entwicklung zu begreifen. Diese öffentlichen Figuren stellen Symptome eines Prozesses der Barbarisierung dar, der Gerade in der Mitte der Gesellschaft seinen Ausgangspunkt hat - und der immer größeren krisenbedingt marginalisierten Menschengruppen implizit das Existenzrecht abspricht.
Wie sehr das "System", gegen das Pirinçci zu rebellieren glaubt, sein Denken präformiert hat, wird allein an seiner Bezeichnung der Hartz-IV-Republik Deutschland ersichtlich. Pirinçci bezeichnet die Bundesrepublik als einen "Raubtiersozialismusstaat", in dem Steuern für "angebliche Sozialausgaben verplempert" würden. Auch bei diesem türkischstämmigen "Klartextredner" gilt: Mensch kratze nur kurz an einem Rechtspopulisten und schon kommt der Neoliberale zum Vorschein.
Die Kontinuitäten zwischen Mainstream und "Extremisten" wie Pirinçci verlaufen in beide Richtungen, denn auch in den Massenmedien wird immer wieder Stimmung gemacht gegen Migranten. In der Springerzeitung "Die Welt" klagt - wie könnte es anders sein - ein türkischstämmiger Streifenbeamter aus Duisburg über zunehmende übergriffe ausländischer "organisierter Banden" auf deutsche Polizisten. Mensch kann es somit als einfaches Duisburger Streifenhörnchen durchaus auf die Titelpage der Welt schaffen - wenn man nur über einen Migrationshintergrund verfügt und kräftig auf Migranten zu schimpfen bereit ist.
Und selbstverständlich sind es auch die seriösen Blätter wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die sich einerseits von dem mit einem Übermaß an Kraftausdrücken übersäten Buch des türkischstämmigen Aufsteigers distanzieren, um nur einen Tag später sich über "aggressive straffällige Einwanderer" und deren "fehlenden Respekt" zu empören. Als Kronzeuge dient der FAZ natürlich eine "Bochumer Polizistin mit griechischen Wurzeln", die sich endlich traue, "so etwas zu sagen."
Der massenmediale Mainstream, der auf die krisenbedingten Tendenzen zur Racketbildung bei Migranten wie bei Deutschen (siehe NSU) mit einer verstärkten Ressentimentproduktion reagiert, bringt somit solche Gestalten wie Sarrazin oder Pirinçci hervor, die wiederum die im Mainstream herrschenden Ressentiments verstärken und ins Extrem treiben. Bei Sarrazin wie Pirinçci handelt es sich somit um präfaschistische konformistische Pseudorebellen, die in der Pose des Dissidenten das aussprechen, was in der Krisenlogik des Systems ohnehin angelegt ist - die Beseitigung einer ökonomisch überflüssigen Menschheit.
Diese rechtspopulistische "konformistische Rebellion" gegen eine halluziniertes übermächtiges Meinungskartell der "politischen Korrektheit" und des "Gutmenschentums" ist zudem von einer absurden "Dissidentenlogik" (FAZ) durchzogen. Sowohl Sarrazin wie auch Pirinçci sehen sich als Opfer einer politisch korrekten Diktatur, die es zu verhindern weiß, dass ihre "unbequemen Wahrheiten" laut ausgesprochen werden können. Personen des öffentlichen Lebens, deren menschenfeindliche Absonderungen Großverlage in Massenauflage publizieren, denen alle Talkshows offen stehen, imaginieren sich als eine verfolgte Minderheit, der die "Gutmenschen" den Mund verbieten wollten.
Der sich sukzessive mit Aggressivität aufladende deutsche Rechtspopulismus, der selbstverständlich keine Kritik an seinem inzwischen nahezu vollständig geschlossenen Wahnsystem verträgt, halluziniert jedweden Widerspruch, den seine kruden Thesen ernten, zu einer brutalen Verfolgungsmaßnahme der allgegenwärtigen politischen Korrektheit. Hier gleicht der Rechtspopulismus - von Sarrazin über die AfD bis Pirinçci - endgültig einer Realsatire. Die Rechtspopulisten übernehmen den Habitus der verhassten "politischen Korrektheit" und des Gutmenschentums, ohne es überhaupt zu merken.
Die "Klartextredner" hetzen immer offener gegen alle möglichen Minderheiten, aber sie führen sich zugleich wie eine verfolgte Minderheit auf, wenn irgendjemand Widerspruch dagegen erhebt. Sarrazin und Pirinçci stellen somit wandelnde Realsatiren ihrer selbst dar: Es sind beständig Härte predigende misantrope Jammerlappen und warmduschende reaktionäre Weicheier, um mal im Jargon eines Pirinçci zu bleiben.
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