"Schau mich an": Tatort und der Morgen danach
Krimireihe am Sonntag schockiert mit grausamen Bildern wie nie zuvor. Ehen wurden auf die Probe gestellt. Leben wir in einem Irrenhaus? Kritik einer Meilenstein-Folge.
Gestern war Sonntag, also Tatort-Tag. Mag der gestrige Tag auch für die einen in erster Linie der sogenannte "Weiße Sonntag" gewesen sein, also der Sonntag nach Ostern, an dem die neuen Mitgliedszugänge der katholischen Kirche Kommunion haben, weiß gewandet wandeln und zuhause dann übrig gebliebene weiße Schokoosterhasen essen dürfen.
So ist doch hoch wahrscheinlich, dass auch in diesen Häusern wie jeden Sonntagabend in Deutschland seit 1970 gestern Abend eine Folge der Krimiserie Tatort lief. Titel: "Schau mich an". Eine Meilenstein-Folge.
Denn nach nunmehr mehr als 50 Jahren hat sich diese Serie gestern selbst überholt und in der zentralen Krimi-Kategorie unnötiger Grausamkeit Netflix eingeholt, so grausam war diese Folge.
Eine Reifefeier
Wie "Game of Thrones" für Leute, die Montagmorgen wieder früh rausmüssen und eine Kostümallergie haben. Plot dieses Krimis gestern war: Ein vom Schicksal geschlagener und immer von anderen ganz schlecht behandelter Killer-Psychopath wird in den Fängen einer ihn bewundernden, auch vom Schicksal geschlagenen und andere mies behandelnden Frau zum Gemeinschafts-Mörder.
Dieses Team "Geistesgestörtheit-Consulting" hat sich hochgearbeitet vom Tiere-Quälen auf Menschen. Filmt, wie man süße Welpen in eine Plastiktüte stopft und dann mit einem Staubsauger die Luft absaugt oder unschuldige Cellospielerinnen grausam zermürbt, bis die Reste der Dame in einen Reise-Koffer passen. Der Anblick in das Innere des Koffers wurde dem Zuschauer erspart, fast alles andere nicht. Im Gegenteil.
Wer noch nie Gewaltvideos auf dunklen Kanälen oder in Metal-Videos gesehen hat, der wurde gestern Abend initiiert. Vorbei sind die Zeiten, in denen bei Derrick die Krimi-Protoleiche daran erkennbar war, dass rechts hinter einem Sofa Beine eines Liegenden zu sehen waren, dieweil Harry alias Fritz Wepper einen ernsten Blick hinter die Sofalehne warf.
Noch ordentlich eine aufs Maul
Niemand erinnert sich heut noch an die schwarz-weiße "Miss Marple" aus der Feder Agatha Christies oder an sogenannte "Straßenfeger": Edgar-Wallace-Verfilmungen, die weniger grausam waren als heutige Schulhofpausen, trotzdem aber noch vor wenigen Jahrzehnten des Abends die Straßen leerten, als alle "Fernsehschauen" gingen.
Doch um die Hauptsache des gestrigen Tatorts nicht zu vergessen: Natürlich tut Unrecht nicht gut und auch gestern Abend konnten zu unserer aller Glück die beiden Münchener Kultkommissare Batic und Leitmayr die Bösen dingfest machen. Die Frau kriegt von ihrem Opfer kurz vor Schluss noch ordentlich eine aufs Maul und wird dann festgenommen.
Der dazugehörige Mann wird Opfer seines Hangs zu Theatralik, als er in Ermangelung einer Schauspielkarriere inmitten des Schlussmonologs die Waffe hebt. In Richtung Kommissare. Wie das ausgeht?
Der Klang des Fangschusses lässt der Fantasie des Zuschauers freien Lauf. Allerdings sind die Möglichkeiten der Fantasie eingeschränkt. Es sei denn, ein aus "Breaking Bad" entlaufener Chemielaborant sei mit einer Knallgasprobe vorbeigekommen.
In niederschmetternder Weise unsere Zeit zitiert
Dieser Tatort zitiert in niederschmetternder Weise unsere Zeit. Als die Täter ihre perverse Gewalt an Tier und Mensch obszön online stellen, bekommen sie Unmengen an Likes und in einem Fall sogar joviales Lob dafür, hochfunktionale Medienunterstützung zur Selbstbefriedigung geliefert zu haben. Da signalisieren auch die Kommissare Bestürzung.
Doch sie bleiben gefasst, was man von bayerischen Kriminalbeamten auch getrost erwarten darf. Sonst wäre man ja nirgendwo in der Welt mehr sicher. Die realen Zuschauer vor den Bildschirmen, von denen wurde berichtet, dass nicht wenige so schockiert waren, dass sie weggeschaltet haben oder sich erst nach 21.45 Uhr weinend hinter ihren Sofakissen wiederfanden.
Gestern Abend wurden Ehen auf die Probe gestellt, in deren Haushalt sich nur eine TV-Fernbedienung befand. Und Alleinstehende mussten geknickt feststellen, dass wir in einer Realität leben, die nun auch noch den Tatort versaut hat, der bisher wenigstens einmal in der Woche gesellschaftliches Eingebundensein gewährleistete.
Offen kommunizieren, dass wir in einem Irrenhaus leben
Umso anerkennenswerter ist es, dass sich Drehbuchschreiber trauen, offen zu kommunizieren, dass wir in einem Irrenhaus leben. Zu sagen, dass das Gezeigte auf der nach oben hin offenen Scharf-Richter-Skala des Blödbösen nicht einmal das Schlimmste war.
Den Rekord halten nicht einmal die Internet-Videos, in denen kleine Welpen von tanzenden jungen Mädchen zu Tode getreten werden. Denn schlimmer geht immer.
Ob es dafür aber nötig war, in dem Tatort bestimmte Szenen episch auszudehnen, bis kurz vor eine Hirnblutung? Oder war das in Wirklichkeit nur ein Psychotest oder eine Hommage an Harpe Kerkelings "Hurz"? Oder war das ein guter Film, der einfach nur zu früh gesendet wurde?
Es gibt eine Donna Leon-Folge namens "Vendetta", in der es um ähnliche Videos geht. Da wurde ein FSK-Wert von 16 veranschlagt, eine des understatements wegen sicherlich nicht unberechtigte Vorwarnung für Zuschauer.
Worüber man sich Sorgen machen muss
Vor allem deswegen witzig, weil "Charleys Tante" von 1963 FSK 12 hat, nur weil Peter Alexander da in Frauenkleidern durchs Bild rennt. Und bis 2009 war es sogar FSK 16. Diese Zeiten sind vorbei. Dass in diesem Tatort darüber informiert wird, dass es mittlerweile normal ist, wenn Männer sich die Nägel lackieren, ist also nicht, warum man sich primär Sorgen machen sollte.
Wohl aber um die Schauspieler. Wenn die in dieser filmischen Verarbeitung eines echten Kriminalfalls mehr Realität aushalten müssen, als aushaltbar ist. Der Rat zu "Augen auf bei der Berufswahl" hilft da nicht viel. Schließlich betrifft diese Misere uns alle. Sie betrifft aber auch die Bösen.
Denn dass krankhaft böser Schwachsinn es bis in den Tatort geschafft und in den Medien gefeiert wird, heißt nicht, dass damit der Gipfel qualitativer Möglichkeiten erreicht wurde. Sondern nur der Gipfel der medialen Teilhabe artverwandter Schwachköpfe.
Wobei wichtig ist, respektvoll und basisdemokratisch zu betonen, dass "schwach" in keinster Weise pejorativ gemeint ist, sondern nur wortwörtlich definiert, dass das Denken solcher Menschen als schwach angenommen werden darf – wenn der Altmeister des Bösen recht hat: Denn es war Stephen King, der verlauten ließ, dass das Böse langweilig sei.
Muss es wohl, wenn sich Menschen mehr über das Wort "Mohrenkopf" echauffieren als über schmerzhaft lange Gewaltszenen im Tatort.
Es ist nicht richtig, die Realität auszublenden
Aber was ist nicht langweilig? Es ist nicht richtig, die Realität auszublenden. Es sei denn, man wolle Sonntagabend romantische Liebesgeschichten auf einer weihnachtlich dekorierten Burg in Schottland ansehen, in die es weihnachtskritische Damen verschlägt, die sich dann nolens volens in den Burgbesitzer verliebt. Wo sind dann die Lannisters von "GoT", wenn man sie braucht?
Die Realität aber einblenden, egal, mit wie viel Authentizitäts- und Kunstanspruch auch immer – ist unangenehmer als jeder Gesundheitstee, vor allem wenn er gleich ozeanweise ins Wohnzimmer schwappt. Wie man es macht, ist es falsch. Oder richtig.
Kultivierte Teilzeitschizophrenie
Tarantino hat diesen Gap zwischen Stil und Wahnsinn in "Kill Bill" dadurch geschlossen, dass er am Ende beider Teile selbstironisch wird. Nachdem Uma Thurman mit den Umständen geschuldet nötiger Grausamkeit bestialisch gerächt hat, was ihr vorher bestialisch angetan wurde, nimmt sie am Ende ihre Zöglinge vom Fernseher weg, weil sie den Kinder-Zeichentrickfilm dort zu grausam findet für ihre Kleinen.
Von dieser Art der kultivierten Teilzeitschizophrenie lebt unsere Zeit. Wir müssen aushalten, was nicht aushaltbar ist und unsere Kinder um acht Uhr ins Bett schicken, wenn wir auch nächsten Sonntag wieder – und jetzt erst recht – Tatort gucken werden. Und hoffen, dass der ein oder andere Irre aus solchen Krimis lernt, dass es einen entscheidenden Unterschied gibt zwischen sich krasse Dinge vorstellen und sie tun.
Eines von beiden ist Montagmorgen vergessen. Für das andere kann es sein, dass es dann keinen Montagmorgen mehr gibt.
Möge also der kommende Dienstag schön werden und uns auch alle anderen Tage über Irre fernbleiben, weil sie uns seit gestern mit kaum noch etwas schocken können – außer damit, dass sie auf einmal freundlich würden. Auf den Tatort darüber darf man sich freuen.
"Grandiose Zahlen" für den Tatort, meldet Meedia heute zum "Fernseh-Hit des Wochenendes": Die neueste Folge aus München habe 8,66 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer "begrüßt". Der Marktanteil liege bei "herausragenden 30,5 Prozent".
Die Red.