Schlacht ums Wohnzimmer

Der Zuschauer als zuckender Reflexmuskel::"X-Men3" und die Sequelitis

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Von meinem Arbeitszimmer aus blicke ich auf eine Häuserzeile. Eines der Gebäude dort sticht besonders ins Auge. Es hat eine orangefarbene Fassade und das oberste Geschoss teilt sich in zwei Penthouse-Wohnungen: mit runden Fenstern, Wendeltreppen aufs Dach und Wintergärten. Nachts eröffnet der Blick auf die andere Straßenseite immer wieder ein und das selbe Bild: In einem der beiden Penthäuser flimmert es permanent; der Bewohner schaut DVDs oder Fernsehen im Leinwandformat. Von meinem Arbeitszimmer aus kann man die Bilderfolgen manchmal recht gut verfolgen. Aus der Ferne wirken die überlebensgroßen Mitbewohner des Nachbarn wie Miniaturfiguren des Handykinos.

Während das Wohnzimmer immer mehr zum Kino mutiert, wird das Kino immer mehr zu etwas, was man eigentlich eher selten von ihm sagt: zum Wohnzimmer. Es heißt, dass es sich in eine Shopping Mall oder in einen Themenpark verwandelt - aber in ein Wohnzimmer? Trotz allem lassen sich entsprechende Tendenzen ausmachen. Ein Symptom wären zuckende Körper.

Das zeitgenössische Kino adressiert immer aggressiver und unverhohlener das Nervenzentrum des Zuschauers. Das macht ihn zum quasi-ferngesteuerten Reflexmuskel. Mit sich selbst und der Leinwand beschäftigt, hängt er zuckend und zappelnd im Rundumbetreuungsprogramm Blockbuster fest. Das kollektive Erlebnis des Kinos hat im Zuge dessen längst an Gültigkeit verloren. Hier ist man ganz allein und privat - quasi unter vier Augen mit den Leinwandhelden und ihrer virtuellen Welt.

6th Day

Ein anderes Symptom ist die Verfilmung von TV-Serien - ein Trend, der Ende der Neunziger seinen Lauf nahm und mit "Drei Engel für Charlie" (2000) einen ersten Höhepunkt erreichte. Ein schöner Kommentar dazu war damals der Arnold Schwarzenegger-Film "6th Day". Der einteilige Film war unzweideutig als Pilotfilm zu einer Serie lesbar, in der ein geklonter Arnold sein Double nicht nur als Konkurrenz auffasst, sondern auch als Verstärkung. Zu den haarsträubensten Szenen zählen jene, die beide in fröhlicher Eintracht an einem Strang ziehend zeigen - ein Film voller Andeutungen, wie diese Liaison weitergehen könnte.

Ein schöner Kommentar auf den Serien-Revival im Kino war der Film nicht nur wegen seiner Anleihen im Referenzspektrum des 80er-Jahre-Serien-TV: Serien wie "Knightrider" und "McGyver" standen hier vermutlich Pate. Sondern vor allem deshalb, weil er als massenkulturelles Industrie-Produkt die Kloning-Thematik und das filmische Doppelgängertum von Peter Sellers ("Dr.Strangelove", 1964) bis Michael Keaton ("Multiplicity", 1996) auf die Serialität des Kinofilms projizierte.

"6th Day" hatte also etwas von jener unbewussten Komik, die zahlreichen Kino-Serien heute zu Grunde liegt. Wie das Kloningfließband, scheint der Fortsetzungswahn im Kino keine Grenzen zu kennen: Kommt da noch mehr? War das jetzt überhaupt eine neue Folge oder nur der erste Film mit anderen Farben erzählt? Filmserien wie "Harry Potter" drängen diese Fragen bisweilen auf recht unangenehme Weise auf. Und "X-Men" (2006) ist wohl der neuste Beweis dafür, dass es schlichtweg keine Antwort auf sie gibt.

Welche Skills hast Du? Und welches Level?

Der dritte Teil der "X-Men"-Trilogie, er ist der schlechteste, liebloseste und langweiligste. Es geht hier im Grunde nur noch um die Vervielfältigung von Spezialeffekten. Die Mutanten, die Brian Singer in den ersten beiden Teilen bisweilen so kühn und so politisch-anspielungsreich in Szene gesetzt hat - sie sind hier nur dazu da, um eine blasse Story zu erzählen (das Mutantentum soll abgeschafft werden, was zu einem Krieg führt). Und um ihre Abweichungen von der Normalität als Performances im Kuriositätenkabinett in Szene zu setzen.

Der Film wimmelt nur so vor Neulingen im Mutantenkosmos - ein bisschen wie Pokemon für Jugendliche: Welche Skills hast Du? Und welches Level? Fehlt nur noch ein Sammelkarten-Business und ein Computerspiel. Aber vielleicht gibt es ja schon beides. Man darf sich sogar auch an "6th Day" erinnert fühlen, wenn einer der neuen Mutanten seine Fähigkeit zur Vervielfältigung vorführt.

Einmal täuscht er in Eigenregie eine ganze Armee im Wald vor, eingeführt wird er mit den lakonischen Worten: Er musste in den Knast, weil sechs Banken ausgeraubt hat. Gleichzeitig. Gleichzeitig sechs Banken auszurauben - das gelingt heute eigentlich nur Blockbustern, die in mehr als einem Land gleichzeitig starten. Darüber hinaus Blockbustern, die an "vordefinierte Erwartungen des Zuschauers setzen und damit an ein etabliertes Verständnis der Produktidentität anknüpfen" (Patrick Vonderau). Kurz: Sequels.

Experimente und Neuanfänge vertagt

Die in diesem Jahr grassierende "Sequelitis" ("Bambi 2", "Final Destination 3", "Ice Age 2", "Scary Movie 4", "Spider-Man 3", "Pirates of the Carribean2", "Mission Impossible 3", "Superman Returns" und eben auch "X-Men 3") zeigt, wie bitter nötig Hollywood heutzutage den mit dieser Art der Markenbindung verbundenen Cashflow hat. The show must go on. Aber auf Nummer sicher. Experimente und Neuanfänge müssen vertagt werden. Das Kino im Serienformat zeigt aber auch etwas anderes ziemlich deutlich: Die große Leinwand wird nicht von kleinen Monitoren ersetzt, wie Jean Luc Godard vor einigen Jahren prophezeite.

Sondern vielmehr von ihrer Logik durchdrungen. Auch wenn die Vorführung öffentlich stattfindet, läuft im Kino, um mit Philips zu sprechen, home cinema to die for. Davon zeugen nicht zuletzt DVD- und Spiele-Verkäufe besagter Sequels. Die von Konsolenherstellern forcierte Schlacht ums Wohnzimmer wird eben auch in den Multiplex-Kinos ausgetragen. Nicht zuletzt lassen sich dort auf effektive Weise Werbefeldzüge für Heimformate führen.