Schlaflos in Seattle
Der US-Bundesstaat Washington steckt gerade in der schlimmsten Keuchhusten-Epidemie seit den 1940ern. Ursachen sind die Impfmüdigkeit der Bevölkerung und eine verfehlte Gesundheitspolitik
Früher hätte man "Reaktion" gesagt, heute ist es ein Backlash: Auf gesellschaftliche, wissenschaftliche, künstlerische Fortschritte folgt mit ziemlicher Sicherheit eine reaktionäre Gegenbewegung, die eben den besagten Fortschritt zunichte zu machen versucht. Die Jeunesse Dorée, die "Deutsche Physik" und der Kreationismus waren oder sind in diesem Sinne Backlash-Phänomene, und der ganze organisierte Irrationalismus ist es schon immer gewesen.
Dass Backlash-Phänomene wie der organisierte Irrationalismus keine bloße Frage abstrakter philosophischer Debatten sind, sondern konkrete Folgen haben, kann man nirgendwo deutlicher sehen als bei medizinischen Themen, und das beste Beispiel dafür wiederum sind die sogenannten Impfskeptiker (Spiel mit dem Feuer).
Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass im Umfeld "impfskeptischer" Milieus Krankheiten wieder vermehrt auftreten, denen durch erprobte Impfverfahren begegnet werden kann. Ob es sich um die Masern in Österreich oder die Poliomyelitis in den Niederlandenund Pakistan handelt, mehr oder minder militante Impfskeptiker sorgen dafür, dass die Programme zur Auslöschung bestimmter Infektionskrankheiten ins Leere laufen.
In den westlichen Industriestaaten sind es neben religiösen Eiferern auch Homöopathen, Anthroposophen und andere naturtrübe Tassen, die an diesem Bündnis für vermeidbaren Kummer beteiligt sind. Im US-Bundesstaat Washington ist es in diesem Frühjahr und Sommer zu einer Keuchhusten-Epidemie gekommen, bei der mindestens das Zehnfache der üblichen Fälle auftrat.
Keuchhusten ist eine Krankheit, die in den USA 5.000 bis 10.000 Menschen jährlich das Leben kostete, bevor eine Kombinationsimpfung im Jahre 1942 verfügbar wurde. Aber der Staat Washington ist derjenige in den USA mit der höchsten Zahl an Eltern, die ihre Kinder von Impfungen fernhielten - zumindest bis letztes Jahr, als immerhin ein Gesetz erlassen wurde, das Eltern verpflichtet, einen Arzt zu konsultieren, bevor sie ihren Kindern diesen "Schutz" angedeihen lassen. Vor der Verabschiedung des Gesetzes ließen satte 6% ihre Kinder nicht impfen und schädigten dadurch die Herdenimmunität offenbar so nachhaltig, dass der Keuchhusten erneut eine Chance bekommt.
Wie oft in diesen Fällen sind natürlich nicht die Impfskeptiker allein schuld. In wenigen Berufszweigen kann Inkompetenz so viel Schaden anrichten wie in den pädagogischen und den medizinischen, aber die schlimmsten Breschen in die Verteidgungswälle gegen Dummheit und Not schlagen immer noch die Institutionen, die auf dem Papier meist schwören, sie zu verteidigen - nichts vernachlässigt Vater Staat so gern wie seine Kinder. Das ist in den USA nicht anders als in Deutschland. Die New York Times vermeldet trocken:
Im Landkreis Skagit, ungefähr etwa eine Autostunde nördlich von Seattle, dem nach Fallzahlen pro Einwohner am härtesten betroffenen Gebiet im Staat, hat die örtliche Gesundheitsbehörde nur noch die Häfte der Mitarbeiter von 2008.
(Übersetzung: M.H.)
Was auch bedeutet, dass nicht einmal alle Fälle von Keuchhusten erfasst werden, von einer nachhaltigen Gegenwehr ganz zu schweigen. Freilich beißt sich hier auch die Katze in den Schwanz, denn eine Bevölkerung, die keinen Schutz will, wird sich über kurz oder lang mehr Not einhandeln, als sie bewältigen kann. Wer aber sagt, dass eine solche Bevölkerung bekommt, was sie verdient, muss auch die Frage beantworten, was die Kinder von Impfskeptikern getan haben, um solche Eltern zu verdienen.
Was nützt gegen die Misere? Was nützt gegen die Dummheit von Leuten, die Feuer ablehnen, weil man sich bei unsachgemaßem Gebrauch auch daran verbrennen kann? Die die Kälte anbeten, weil sie angeblich natürlich, gottgegeben oder gesund ist? Dasselbe wie immer: Druck von oben (durch staatliche Maßnahmen, siehe das besagte Gesetz), Druck von unten (durch eine informierte Bevölkerung, die den Staat an seine Pflichten erinnert) und Aufklärung (durch die Bereitstellung korrekter Informationen). Letztlich bleibt die schwache Hoffnung, dass immer mehr Druck durch immer mehr Aufklärung ersetzt werden kann.