Schluss mit dem Argutainment!

Ob bei der nächsten Pandemie oder beim Klima: Information, Kompetenz und Unterhaltung müssen auseinandergehalten werden. Ein Einwurf.

Einen heißen Debattenherbst um Maskenpflicht und Impflücke, um Wissenschaft und Macht, Demokratie und Bevormundung eröffnete schon Ende Juli niemand geringeres als Daniel Kehlmann, als er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die Begegnung mit entblößtem Gesicht zur Grundlage des zivilisierten Humanismus erklärte.

Das war gewagt, denn liest man die Geschichte der Zivilisation wie Norbert Elias wesentlich an den Essgewohnheiten ab, dann erkennt man, dass diese aus wachsendem Respekt vor der Integrität des anderen besteht. Gemeint ist explizit die körperliche Integrität, und diese hatte wesentlich mit der Trennung der Körperflüssigkeiten zu tun.

Zivilisation erscheint in diesem Blick als Einsicht, dass der Respekt vor dem Anderen am besten auch den eigenen Körper schützt, und viel mehr hat man ja nicht. Das Recht, einander während einer Seuche anzuspucken, und sei es unabsichtlich beim unvermeidlichen Sprechen, gehört wohl kaum dazu.

Dass Kehlmann irrte, muss daher sagen, wer andere Präferenzen setzt. Schließlich schrieb er im Sommer bei täglich über hundert Toten. Eine Impflücke sah Kehlmann offenbar nicht, also auch keine Notwendigkeit für eine Impfpflicht. Mit der Ablehnung der Maskenpflicht für den Winter hat er deutlich mehr als diese hundert Opfer am Tag gerechtfertigt.

Verboten oder unlauter ist das aber nicht. Zu Unrecht wurde Kehlmann deshalb von beträchtlichen Teilen des Publikums in die Nähe von Querdenkern gerückt. Noch vor der Pandemie war dieser Begriff zwar ein Lob für Menschen, die den Blick weiteten, statt nur zentristisch um die immer selben Argumente einiger Experten zu kreisen.

Im Fall der Pandemie hieß das zunächst, die Einschränkungen für Kinder und Jugendliche zu berücksichtigen, die psychischen Probleme vieler Menschen unter der Isolation oder auch die Versorgung abhängiger anderer Volkswirtschaften mit Gütern aus dem weltweiten Kreislauf.

Einst trat der Querdenker als Gegenspieler des Fachidioten auf, der im Volksmund längst Nerd genannt wird. Während der Nerd an einer Achse entlang denkt und anderes ausblendet, bewegte sich der Querdenker als unangepasster Geist auch von dieser Achse weg, quasi im ganzen Raum und stellte Verbindungen zu vergessenen Aspekten her.

Querdenker schossen weit über ihre Ziele hinaus

Diese Bedeutung hat sich in der Pandemie jedoch radikal verändert. Sie ist ins Negative, ja Lachhafte verkehrt worden, denn Querdenker schossen weit über ihre Ziele hinaus und zeigten sich bald in beinahe jeder Äußerung als naive Uninformierte, die keine Expertise mehr anerkannten und kausale Zusammenhänge behaupten, wo gar keine sind.

Sie vergleichen gern Opferzahlen der Seuche mit denen von Alkohol oder Straßenverkehr, ohne dass es dort exponentielle Anstiege zu befürchten gibt. Genauso schauen sie auf Infektionsraten verschiedener Länder ohne auch nur eine Zahl zu berücksichtigen, in der sich die beiden Länder hinsichtlich der Risiken, sich anzustecken unterscheiden: mittlere Bevölkerungsdichte, Klima, soziale Gewohnheiten, Wohnverhältnisse.

Niemand würde auf die Idee kommen, einen beliebigen Saab mit irgendeinem Fiat bei 50 Grad Hitze und 23 Prozent Steigung auf Schotter gegeneinander antreten zu lassen, um daraus abzuleiten, wie sich ein BMW in derselben Situation verhält.

In Querdenkerkreisen werden aber häufig Italien und Schweden verglichen, um eine Aussage über die Wirksamkeit von deutschen Lockdowns zu machen. Dabei werden alle Unterschiede missachtet, zum Beispiel, dass junge Schweden im Mittel mit 19 Jahren von den Eltern wegziehen, Italiener aber erst mit 30. Viele Südeuropäer leben nämlich Zeit ihres Lebens mit den Eltern und Großeltern zusammen.

Weil es einen Unterschied macht, ob man sich alle paar Wochen sieht oder mehrere Stunden am Tag, tragen die jungen, hochmobilen und wenig gefährdeten Italiener die Infektion also extrem viel leichter in die Risikogruppen als Schweden. Am Ende dieses sogenannten Querdenkens liegt man dann leicht mal einen Faktor 1.000 daneben, was die Risiken angeht und entsprechend auch die möglichen Opferzahlen.

Beliebt unter Querdenkern ist auch die Häme über Abstandsregeln am Flugschalter, wo man doch im Flugzeug dann eng an eng sitze. Dass es um die in der Nähe verbrachte Zeit genauso geht, wie um die Zahl der einem nahe kommenden Menschen, scheint an Komplexität bereits zu viel abzuverlangen.

Kompetenz und Überschreitung

Der studierte Historiker René Schlott aber geht noch viel weiter. Als sei ihm keine Dummheit dumm genug, moniert er, dass Waren in der Pandemie Grenzen passieren durften, Menschen jedoch nicht.1

Diese Redeweise erinnert an das Sprichwort, dass der Kopf rund sei, damit das Denken die Richtung ändern könne. Dabei weiß doch jeder, dass er rund ist, damit es immer im Kreis geht, – kleiner Scherz. Tatsächlich hat die Denkrichtung mit der Form des Kopfes nichts zu tun und ein Liter Milch oder ein Autoreifen war nie ein Superspreader.

Robert Jütte, emeritierter Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung, das er dreißig Jahre lang geleitet hat, stellte in einem Streitgespräch mit Schlott im Deutschlandfunk denn auch dessen Fachkompetenz höflich in Frage.

Der Rede wert ist das leider, weil René Schlott kürzlich Christian Drosten einen autokratischen Kern in der Überlegung unterstellte, zur Verbesserung des Wissenstransfers Redemandate zu vergeben. Autokratie ist nun beileibe kein kleiner oder simpler Vorwurf, zumal Schlott ebenfalls in der FAZ dafür einen Platz bekam. Weiter der Rede wert ist das, weil es sich nicht mehr um einen Einzelfall handelt.

Daniel Kehlmann wiederum nannte den Gesundheitsminister Karl Lauterbach in seinem Gastbeitrag einen genuinen Populisten. Der Historiker Caspar Hirschi hatte sich in der FAZ schon vorher darüber beschwert, dass Drosten sich wie ein engagierter Intellektueller zu den Schulschließungen geäußert habe, obwohl das nicht in seine Fachkompetenz fiele, sondern Politik sei.

Dasselbe sagte auch Kristina Schröder in ihrem Buch Freisinnig. Drosten habe als Wissenschaftler mitgeteilt, dass die Daten Kinder als möglicherweise ebenso infektiös wie Erwachsene zeigten. Dieser Satz sei erlaubt gewesen.

Der nächste allerdings, in dem Drosten einfach nur folgerte, man solle wohl besser vorsichtig sein mit der Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärten, sei eine unzulässige Überschreitung seiner Kompetenz. Auf einer Lesung im taz Café, die ich besuchte und die im Netz abrufbar ist, sagte Frau Schröder, er hätte diesen Satz als seine Meinung kennzeichnen müssen.

Es geht hier nicht mehr um Missverständnisse oder bloßes Nichtverstehen. Inmitten eines handfesten politischen Konfliktes um Maßstäbe, in dem es auch weiterhin große Verlierer und sehr viele Tote geben wird, streiten sich die Gelehrten und die Nichtgelehrten naturgemäß um Einfluss.

Interessant ist dabei nicht nur die virulente Leugnung eines Zusammenhanges von Fakten und politischen Entscheidungen oder die Frage, inwieweit auch auf der Seite jene, die keine Naturwissenschaftler sind, professionell eingeengte Blicke eine Rolle spielen.

So wird Schlott gerne als Experte der DDR vorgestellt und Hirschi ist einer für Gelehrtenmilieus ausgerechnet in der Vormoderne, in der Autorität noch nicht auf Fakten und Kompetenz gebaut, sondern personal und launisch war.

Frau Schröder wiederum ist Parteipolitikerin. Nein, interessant ist vor allem die Denkfigur, die unwidersprochen ausgerechnet den Experten des zur Diskussion stehenden Fachgebietes ihre bürgerlichen Rechte abspricht.

Schließlich muss sich Herr Hirschi fragen lassen, was er denn gegen engagierte Intellektuelle habe. Offenbar gar nichts, tritt er in seiner Rede doch selbst als ein solcher auf. Ihm scheint nur Herr Drosten als Intellektueller nicht akzeptabel.

Dieser eben selbst keinesfalls akzeptable Umgang hat Methode und Geschichte und muss dringend beendet werden. Dabei spielt der unglückliche Umstand, dass ein großer Teil der Kommunikation zur Seuche und ebenso zur Erderwärmung in kapitalistisch oder halbkapitalistisch organisierten Formaten abgehandelt wird, eine prominente Rolle.

Denn in den Talkshows oder Boulevardzeitungen gilt Bekanntheit ebenso viel wie Widerspruch.

Nichts ist unterhaltsamer als den Zuschauern ein gutes Gefühl erst nicht zu versprechen, dann aber zu liefern. Dazu braucht es den Gegenspieler.

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