Schluss mit dem Argutainment!

Seite 2: Es ist die Pflicht des modernen Bürgers, selbst zu entscheiden, welchen Satz von Herrn Drosten er wie einzuordnen hat

Wo der Zwang zur Satisfaktion regiert, muss man bei unangenehmen Themen einen Ausweg anbieten, über den die Zuschauer entlastet und gehalten werden. Anders ist es nicht zu erklären, dass Schauspieler oder auch Sarah Wagenknecht am Sonntagabend neben Karl Lauterbach sitzend über Impfrisiken spricht.

Der Minister hat allerdings äußerst souverän und gefasst lange zugehört, bis er dann klarstellte, sie rede Unsinn. Damit kann man leben, aber man muss wissen und sollte im Zweifel klarstellen, dass es sich um Unterhaltung handelt, nicht um Information: um Argutainment. Ehrlicher Interessierte hören sich lieber den Podcast des NDR an, das spart Zeit.

Darauf hinzuweisen, dass niemandem das Recht abgesprochen werden soll, wie Sarah Wagenknecht zu reden, ist schon komisch. Aber noch komischer ist, dass Christian Drosten das Rederecht abgesprochen oder ihm eine Kennzeichnungspflicht für Satzsorten auferlegt wird. Welcher anderen Berufsgruppe ist das schon passiert?

Eine moderne Gesellschaft wird ohne Arbeitsteilung nicht auskommen können, und ist es die Pflicht des modernen Bürgers, selbst zu entscheiden, welchen Satz von Herrn Drosten er wie einzuordnen hat. Dasselbe gilt für Karl Lauterbach.

Herablassung ist das Problem

Ich möchte meinem Kollegen Kehlmann heftig widersprechen beim Vorwurf des Populismus. Vielmehr ist leicht verständlich, dass der Minister manchmal ein wenig wie eine Helikoptermutter wirkt, die ihren Kindern am liebsten jedes Risiko nehmen möchte.

Politiker, denen alles egal ist, gibt es schon genug, und ich wüsste daher nicht, mit welchem Recht der Schriftsteller einem Mann dieser Qualifikation und dieses Engagements einen solchen Vorwurf hinknallen sollte.

Mir persönlich hat der nur von Lauterbach gegebene Hinweis auf die viruslähmende Wirkung eines bestimmten Asthmasprays geholfen, die Lunge während der Infektion weitgehend zu schützen. Eine sachliche Begründung gab Kehlmann dann auch nicht.

Dass die Ikone der Querdenker, wie die FAZ Ulrike Guérot nennt, wiederum den Text von Schlott twitterte, war so übrigens so absehbar wie die unzivilisierten Reaktionen darunter. In einer Zeit, in der Lauterbach einer Entführung entgeht und Drosten nicht einmal in Ruhe zelten gehen kann, ist das nicht hinnehmbar.

Übrigens schätze ich Kehlmann als Erzähler wie kaum einen Zeitgenossen oder eine Zeitgenossin. Er hat in den letzten Büchern eine moderne Poetik entworfen, die hoffentlich über die Jahrzehnte ihren Einfluss entfalten kann.

Es ist eine Poetik der Kontingenz, die bis in den Satzbau hinein das Grunderlebnis des Menschen, der Welt mit ungenügenden Mitteln gegenüber zu stehen, wiedergibt. Dabei fällt vor allem auf, dass dieses Grunderlebnis im Dreißigjährigen Krieg noch sehr viel stärker vorhanden war: Tyll ist deutlich beunruhigender als das kleine zuvor erschienene Buch, das in der Jetztzeit spielt.

Seinen Ruhm und mit ihm sein Rederecht in einer Publikationslandschaft, die Unterhaltung von Information nicht zu trennen gelernt hat, erwarb Kehlmann allerdings zweifellos mit seinem Megaseller über Gauß und Humboldt.

Und hier zeigt sich das ganze Problem. Denn schon auf den ersten beiden Seiten stellt er Gauß als jemanden dar, der sich im Bett versteckt, der seine Frau durch Schließen der Augen zum Verschwinden zu bringen sucht, mit einem Kindertrick also, und dann nur durch die herrische Mutter zu bewegen ist, endlich aufzustehen um nach Berlin zu fahren. Sie kneift ihn in die Wange und fragt, wo denn ihr tapferer Junge sei!

Die Herablassung, mit der hier einer der wirkmächtigsten Überflieger und Genies der deutschen Geschichte behandelt wird, ist zum Schämen. Und sie ist kein Zufall.

Humphry Davy, der vielleicht erste Popstar der Wissenschaft, ein Großunterhalter Londons zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Begründer der modernen Chemie und Entdecker Faradays, nannte ihn nach seinem Besuch in Göttingen einen der freisten Menschen überhaupt.

Doch Kehlmann macht das Gegenteil aus Gauß, einen Nerd: Unerwachsen, unkörperlich, untauglich. Ein Fall zum Lachen. Und ganz Deutschland ist hingerissen: Mathematiker? Kann man nicht ernst nehmen. Tragen Hornbrille und in Sandalen Kniestrümpfe und können den Fahrplan der Bahn auswendig. Bestenfalls.

Dass das Einzelfälle sind, dass die meisten halbwegs guten Mathematiker meist auch sehr gute Sportler sind, weil beides mit Raumvorstellungsvermögen zu tun hat, wird so ignoriert wie die Handvoll Charismatiker, zu denen Drosten gehört.

Nur mit dieser gut einstudierten Überheblichkeit ist zu verstehen, dass ein Caspar Hirschi einem Christian Drosten vorwerfen kann, wie ein engagierter Intellektueller zu reden und zu implizieren, dieses stünde ihm nicht zu. Dass es ihm zusteht, garantiert nicht bloß das Grundgesetz.

Auch Drosten garantiert es spielend selbst, wenn er darüber redet, warum Araber ihre Kamele nicht impfen lassen, wenn er einem Philosophen im Podcast einen Fehler nachweist oder die Größe hat, von seinem wissenschaftlichen Bauchgefühl zu sprechen.

Dass er sich aus dem Argutainment der Talkshows zurückzieht und vorschlägt, Sprechermandate zu entwerfen, spricht endgültig für seine Seriosität. Posten und Mandate hat sogar die Schriftstellervereinigung PEN und dennoch sagt jedes Mitglied, was es will. Nur eben nicht im Namen von allen.

Darüber hinaus ist nicht nur die Annahme falsch, Naturwissenschaftler und alle, die mit Zahlen umgehen können, seien Nerds. Falsch ist auch, es gäbe sie anderswo nicht genauso. Nerds gibt es überall. In der Philosophie gibt es Nerds der Argumentationslogik, denen alles Menschliche so fremd ist, wie dem Computerfreak, der sich nie den Flaum wegrasiert hat.

Unter Historikern gibt es Nerds, die in jedem polierten Teekessel die DDR wiedererkennen oder in jeder Hygienemaßnahme den Nazismus, um dann mit dem Lob russischer Faschisten überhäuft zu werden.

Ausblick

Ein Romancier bot mir kürzlich eine Szene aus dem Blockbuster "Don‘t look up" als Beweis für eine falsche Politik der deutschen Regierung an, als sei, was sich gut erzählen ließe, automatisch richtig. René Schlott ist sich sicher, dass es in der Wissenschaft keine letztgültigen Wahrheiten gibt.

Wenn diesem Unfug kein Ende bereitet wird, kann die Klimakatastrophe so wenig aufgehalten werden wie die nächste Pandemie. Julian Nida-Rümelin wollte in einem peinlichen Posting dieser Tage beweisen, dass die Hitzewellen keinen Einfluss auf die Lebenserwartung haben, schließlich habe Rom eine um 6 Grad höhere Durchschnittstemperatur als Berlin, und man lebe dort nicht erkennbar kürzer.

Fragt sich nur, was der Winter hilft, wenn es im Sommer immer öfter und immer länger weit über 40 Grad heiß wird und der Kreislauf vieler Hochbetagter die Leistung, die dann zum Kühlen des Körpers notwendig ist, nicht aufbringen kann. Wie wäre es mit einem Ehrenkodex ähnlich dem der Ärzte auch unter Professoren: Dass man nicht derlei Unsinn publiziert? Er dient ja einzig der Selbstvermarktung.

Echte Querdenker glauben allerdings wirklich, dass ein in der Hitze hechelnder Hund außer Puste ist: Man sieht es doch! Sollte Saporischschja doch ohne Katastrophe durch den Krieg kommen, werden sie das als Beweis nehmen, dass Atomkraft sicher ist.

Und erklärt man ihnen, warum eine Billardkugel schneller zu Boden fällt als eine Seifenblase gleicher Größe, obwohl das Gewicht beim freien Fall in der Erdanziehung gar keine Rolle spielt, dann fragen sie nicht nach Genauerem. So erfahren sie nichts über Luftwiderstand und Trägheit. Stattdessen sind sie überzeugt, dass man sie, autark wie sie doch sind, ja nur dominieren will.

Aber tatsächlich sind sie unfreie Geister, die keine Wahrheiten ertragen. Ständig filmen sie mit ihren Telefonen, wie Bahnsteige von Zügen wegfahren, und haben dann den Beweis. Man wird nicht auf sie nicht bauen können. Umso mehr werden die gebraucht, die keine solchen naturwissenschaftlichen Analphabeten sind. Sie ebenso gut zu behandeln wie alle anderen, ist das Mindeste.

Von Ralf Bönt ist soeben in Sinn und Form 5/2022 der Essay "Über Unwissende. Versuch zum Verlust von Gegenwart" erschienen.

Ralf Bönt (@Boent) bei Twitter.

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