Schmerzbekämpfung mit dem Holzhammer
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Zu harte Drogen und zu wenig Aufklärung: Über Nebenwirkungen im Gesundheitssystem
Der Fall
Brandenburg an einem schönen Spätsommertag. Die Äpfel im Garten des Wochenendhauses sind reif und müssen gepflückt werden. Nach harter körperlicher Arbeit sind die Konzentration und Muskelkraft der Person in unserem Beispiel verringert und so rutscht er an der Rinde des Baums ab und fällt. Er hat zwei Möglichkeiten: sich festzuhalten oder sich fallen zu lassen. Die Risikoabschätzung, die er, wie jeder Mensch in der Situation in wenigen Millisekunden instinktiv vornimmt, führt dazu, dass er sich festhält - und sich dabei sein Schultergelenk auskugelt.
Die Nachbarn rufen für ihn den Krankenwagen, seine Schmerzen sind sehr stark. Als der Krankenwagen da ist, fragen die Sanitäter als erstes, ob er ein Schmerzmittel benötigt. Die Reaktion des pharmaskeptischen Stadtmenschen ist die Erwiderung, dass sie ihm höchstens etwas Harmloses wie z.B. Ibuprofen geben sollten. Härtere Mittel halte er für "das Schießen mit Kanonen auf Spatzen".
Ibuprofen hat man im Krankenwagen nicht da und der Sanitäter meint, es würde ihm nun sowieso nicht mehr bei seinen starken Schmerzen helfen. Die Schmerzen werden während der Fahrt ins Krankenhaus immer stärker und der Patient lässt sich schließlich auf die Gabe eines Schmerzmittels ein. Der Schmerz ist nun auch zu groß, um stutzig zu werden, als es heißt, ein Arzt müsse dem Krankenwagen entgegenfahren und das Medikament erst freigeben.
Es werden nach der Freigabe durch diesen Arzt zwei Medikamente intravenös gespritzt. Das erste ohne Probleme; vor dem zweiten sagt man dem Patienten "Sie fühlen sich gleich etwas komisch", aber das gehe nach ein paar Sekunden vorbei.
Dieser Horrortrip geht aufs Haus
Das zweite Medikament wird gespritzt und fast sofort geht es los. Der erste Gedanke des Patienten: "Hier stimmt etwas nicht, ich reagiere nicht gut auf dieses Zeug, ich verliere die Kontrolle über mein Dasein." Der nächste Gedanke: "Ich werde gleich tot sein! Hilfe! Scheiße! So fühlt es sich also an zu sterben!"
Was dann passiert, sollte man niemandem wünschen: Ein Filmriss, eine gefühlte Abtrennung des Körpers vom Geist, das Gefühl, den eigenen Körper für immer zu verlassen, das Gefühl von Hilflosigkeit und dem Ausgeliefertsein auf dem Weg ins Nichts.
Wie lange das dauert, kann der Patient nicht sagen, weil er kein Zeitgefühl hat und weil er nicht weiß, welcher Zustand das eigentlich ist, ob er (noch) ein Mensch ist, ob er eine Persönlichkeit hat? Er weiß es nicht. Nur eben, dass er den blanken Horror vor Augen hat; dass seine Lage verwirrend und gefährlich ist. Nachdem der Horrortrip vorbei ist und der Patient verwirrt aufwacht, heißt es lapidar, solche Reaktionen seien "super selten", vielleicht "einer von 10.000" reagiere so.
Was ist passiert?
Was der Patient vor der Gabe der Medikamente nicht wusste und worüber man ihn nicht aufgeklärt hat: Man hat ihm Ketamin S verabreicht (auch Esketamin genannt; 5mg) und zusätzlich Metamizol (2g) sowie Midazolam (3,5 mg). Ketamin ist ein in besonders hohem Maße psychoaktives Schmerz- und Narkosemittel.
Metamizol ist ein weiteres Schmerzmittel, das in vielen Industriestaaten wie z.B. Norwegen, Australien oder Frankreich verboten ist, da es zu starken, teils tödlichen Störungen bei der Blutbildung führen oder einen Schock des Immunsystems mit Todesfolge auslösen kann. Midazolam ist ein beruhigendes, schlafförderndes und angstlösendes Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine (und wird in den USA höher dosiert auch für Hinrichtungen verwendet).
Der Auslöser der heftigen Nebenwirkungen in diesem Fall war Ketamin. Bei dem Medikament handelt es sich aus nicht-medizinischer Sicht betrachtet nicht nur um ein Schmerzmittel, sondern auch um eine harte halluzinogene Droge. Aus Laiensicht könnte man zusammenfassen, dass dieses Medikament nicht nur den Schmerz über die Schmerzrezeptoren erfasst, sondern auch einen kompletten Verwirrtheitszustand bis hin zur Ohnmacht auslösen kann.
Was der Patient erlebt, nennt sich im Drogen-Jargon im Übrigen "K-Hole", also ein potentiell traumatisierender Psycho-Vorfall vollständiger Verwirrtheit und Horrorvisionen. Ein Hobby-Drogenkonsument hat eine ähnliche Erfahrung und das Erleben des Ketamin-Rausches in einem Forum besonders plastisch beschrieben:
[…] Die "Sterbephase" ging einher, mit einem kompletten Verlust meiner Erinnerung an Leben, Existenz oder auch Drogen, einfach alles war durcheinander gewürfelt worden. [...] Dieser Tod war von seltsamer Natur. Es war, als würde ich jegliche Existenz aufgeben und von nun an als "Gegenstand" durch Realitäten und Universen irren, auf der Suche nach einer Existenz. [...] Ich war in der Realität tot, nicht mehr mit meinem Körper verbunden. Stattdessen im Kern allen Seins. […] Es gab einfach nichts mehr.
Land der Träume
Was genau ist Ketamin?
Ketamin ist, je nach Dosierung und Kombination mit anderen Medikamenten, wahlweise ein Schmerz- oder Narkosemittel. Es sorgt schnell dafür, dass der Patient einschläft oder von Schmerzen befreit wird. Und das unter Erhaltung der sogenannten Schutzreflexe (unbewusste Reflexe des Körpers, um körperliche Schäden etwa während einer Ohnmacht zu verhindern).
Neben dem Einsatz in Krankenhäusern und Rettungswagen ist Ketamin eine seit den 1970er Jahren überaus beliebte Straßendroge. Sie wird aber auch von Kriminellen in Form von sogenannten KO-Tropfen verwendet, um Menschen wehrlos zu machen, etwa um sie dann zu vergewaltigen.
In der Popkultur hat Ketamin einen festen Platz, u.a. da es im Vietnamkrieg unter den Soldaten als Droge beliebt war. In Filmen wie Jacob's Ladder wurden Psycho-Experimente der US-Armee mit Ketamin und anderen halluzinogenen Drogen für ein breites Publikum thematisiert.
Auf körperlicher Ebene führt die Aufnahme von Ketamin dazu, dass das Herz-Kreislauf-System stark angeregt wird, die Herzfrequenz und der Blutdruck ansteigen. Im Gehirn setzt sich die Substanz an verschiedene Rezeptoren und entfaltet seine Wirkung, die als dissoziativ und psychotrop bezeichnet wird. Dissoziativ heißt das gefühlte Auseinanderfallen geistiger Funktionen teilweise inklusive dem Körperempfinden. Psychotrop bedeutet, dass eine Substanz auf potentiell unterschiedliche Art und Weise das Bewusstsein verändert.
Im beschriebenen Fall wurde Ketanest S verabreicht und zwar aus dem Big-Pharma-Haus Pfizer:
Bei S-Ketamin handelt es sich um chemisch aufbereitetes Ketamin, bei dem die sedierende (beruhigende) und analgetische (schmerzstillende) Komponente stärker hervortritt. Es verursacht nicht so häufig Nebenwirkungen wie Albträume oder Horrortrips und wird deshalb seit einigen Jahren in der Notfallmedizin häufiger verwendet als Ketamin.
Anwalt.de
Schön zu wissen. Aber in diesem Fall hat das "S" nicht geholfen. Dass das Medikament Ketamin gar nicht so harmlos ist, wie im Krankenwagen suggeriert wird, zeigen solche Warnhinweise:
Das Medikament darf nur von erfahrenen (Narkose-)Ärzten gespritzt werden und nur, wenn die Möglichkeit zur künstlichen Beatmung besteht.
Onmeda.de
Der Grund: Zwischen 40 und 60% der Patienten müssen künstlich beatmet werden, wenn sie Ketamin in Kombination mit Midazolam (Benzodiazepin) verabreicht bekommen, wie auch im beschriebenen Fall geschehen. Außerdem wird zu möglichen körperlichen Komplikationen angemerkt:
Ketamin rief eine Atemdepression [hervor] (manchmal bis zum Atemstillstand), normalerweise innerhalb den ersten zwei bis drei Minuten [… diese Reaktion] trat am häufigsten auf, wenn gleichzeitig Substanzen verabreicht wurden, die Atemdepression hervorrufen.
Quelle: RJ Strayer und LS Nelson (übersetzt vom Autor)
Im beschriebenen Fall ist dies glücklicherweise nicht geschehen. Ketamin ist aber eben auch auf körperlicher Ebene nicht ungefährlich.
Die Psycho-Nebenwirkungen von Ketamin
Wie bei so vielen Hervorbringungen der modernen Industriegesellschaft und Medizin, versteht man die genaue Wirkung und Wirkungszusammenhänge auch bei Ketamin nicht vollständig. Man weiß also nicht genau, weshalb es gegen Schmerzen effektiv ist, nur dass es sich an verschiedene Rezeptoren im Gehirn andockt und irgendwie funktioniert.
In einer wissenschaftlichen Zusammenfassung von Ergebnissen aus 87 Studien (2011) kam man zum Schluss, dass, wenn Ketamin für die Sedierung bei kleineren medizinischen Eingriffen eingesetzt wurde, psychotische Reaktionen bei 10 bis 20 Prozent der Patienten auftraten.
Auch ganz offiziell und entsprechend der Verpackungsbeilage gelten als "Sehr häufige Nebenwirkungen" die Folgenden:
Aufwachreaktionen (wie lebhafte Träume und Albträume, Übelkeit und Erbrechen, erhöhter Speichelfluss, Sehstörungen, Schwindel, Unruhe), Blutdruckanstieg, schneller Herzschlag. […]
onmeda
Und in der Spalte zur Häufigkeit von Nebenwirkungen stehen in der Verpackungsbeilage unter "Nicht bekannt": "Halluzinationen, Dysphorie, Angst, Orientierungsstörung". Weshalb denn "nicht bekannt"?, möchte man da fragen. Das kann eigentlich nicht sein. Oder möchte der Hersteller die tatsächliche Häufigkeit dieser Nebenwirkungsgruppe verschleiern? Müsste an der Stelle eher "sehr häufig" stehen?
Um die Psycho-Nebenwirkungen zu verhindern, heißt es in einer anderen Quelle, dass "man in der Medizin Ketamin meist mit einem Benzodiazepin-Medikament kombiniert. Dann können sich die Patienten nach der Narkose nicht mehr an allfällige Albträume erinnern."
Auch wird Ketamin in der Notfallmedizin häufig niedrig dosiert (im beschriebenen Fall wurden auch lediglich 5mg Ketamin bzw. Ketanest S verabreicht), damit die Nebenwirkungen nicht auftreten. Ein in einer wissenschaftlichen Untersuchung (Ketamin Traum oder Albtraum?) zitierter Arzt sagt zum Thema der Dosierung des Medikaments jedoch, er könne: "keine klare Beziehung zwischen Dosierung und Auftreten von dissoziativen Symptomen erkennen".
Auch diese Quelle bestätigt dies:
"Auch wenn keine Überdosierung vorliegt, kann ein K-hole-Effekt auftreten." Und, was auch schlimm ist: "Dieser kann die betroffene Person in einen Zustand der Lähmung versetzen, die wiederum zu einem Zusammenbruch der Atmung oder des Kreislaufs führen kann..." [Übersetzung ins Deutsche durch den Autor]
In der Verpackungsbeilage gibt der Hersteller auch selbst zu, dass in einem Drittel der Fälle der alleinigen Gabe von Ketamin Psychoeffekte beim Aufwachen auftreten. Von Todesangst hier aber kein Wort. Der Pharmakonzern spricht lieber von "lebhaften Träumen, inklusive Alpträumen".
Persönliche Anmerkung des Autors: Der im Beispiel betroffene Patient ist der Autor selbst und er kann versichern, dass das Wort "Albträume" im Kontext der beschriebenen Nebenwirkungen als euphemistisch zu bezeichnen ist. Denn zwischen dem Gefühl, aus dem Wachzustand heraus zu sterben und einem ganz normalen Albtraum liegen Welten.
Ersteres fühlt sich unvergleichlich realer und schlimmer an. Man "weiß" in dem Moment, dass man sterben wird. Wenig verwunderlich wäre, wenn ein Patient durch eine solche Nebenwirkung ernsthaft traumatisiert würde. Ganz nebenbei bemerkt, wird Ketamin neben wehrlosen Patienten auch wehrlosen Tieren verabreicht. Sicherlich ein Fall für Tierschützer.