Schockstrategie in der Ukraine
Kiew bereitet ein Schulden-Moratorium vor. Das Land droht Gläubigern mit Zahlungsausfall. Betroffen sind auch EU-Gelder
Am Dienstag verabschiedete das Parlament in Kiew ein Gesetz, um Zahlungen an ausländische Gläubiger des hochverschuldeten Landes auszusetzen. Aktuell verhandelt die Regierung über die Umschuldung von 23 Milliarden Dollar, die das Land voraussichtlich nicht zurückzahlen wird. Mit dem nun verabschiedeten Gesetz schafft sich die ukrainische Regierung unter Arseni Jazenjuk und Petro Poroschenko die Möglichkeit, das Verhalten von bestimmten Geldgebern als "gewissenlos" einzustufen. Gleichzeitig forderte Ministerpräsident Jazenjuk weitere internationale Finanzhilfen.
Mit ihrer Gesetzesinitiative scheinen die Abgeordneten in Kiew vor allem auf Russland zu zielen. Das Projekt wurde öffentlich damit begründet, dass die Kredite, die dem Land unter dem gestürzten Präsidenten Janukowitsch gewährt wurden, "nicht beim Volk angekommen" seien. Daher sehe man keinerlei Verpflichtung, die Kredite zu bedienen.
Zuletzt hatte Russland im Dezember 2013 ukrainische Staatsanleihen im Wert von 15 Milliarden Dollar aufgekauft. Nach dem Treffen betonte Russlands Präsident Wladimir Putin seinerzeit, dass mit der Finanzhilfe keine politischen Bedingungen verbunden sind, "weder die Senkung noch das Einfrieren sozialer Standards, Renten, Transferleistungen oder Ausgaben".
Der geringere Anteil der ukrainischen Auslandsschulden verteilt sich auf westliche Finanzinvestoren. Einen hohen Anteil hält mit ca. 7 Milliarden US-Dollar die Gruppe Franklin Templeton Investment, die vom internationalen Starinvestor Michael Hasenstab geführt wird. Auch sein Kollege George Soros, der seit Monaten die internationale Politik agitiert, mehr öffentliche Gelder in die Ukraine zu pumpen, soll einen nicht näher bezifferten Betrag riskiert haben. Weitere Geldgeber sind BTG Pactual, TCW Investment und T. Rowe Price Associates.
Die Appelle der westlichen Finanzinvestoren erwiesen sich insofern als erfolgreich, als der IWF praktisch zeitgleich mit den Friedensgesprächen in Minsk internationale Finanzhilfen einräumte, die das Land kurzfristig vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch bewahren. Kaum lag das Ergebnis von Minsk II vor, verkündete der Internationale Währungsfonds (IWF), dass die Ukraine insgesamt 40 Milliarden US-Dollar an Hilfsmitteln erhalten wird.
Inmitten einer globalen Finanzkrise und parallel zu harten Verhandlungen, bei denen mit der neuen griechischen Linksregierung - immerhin ein EU-Staat - um jeden Cent gerungen wird, konnte diese Entscheidung nur als politisches Stützungsprogramm für die Poroschenko-Regierung bewertet werden. Alleine für die nächsten vier Jahre räumte der Exekutivrat des IWF dem Land eine Kreditlinie über 17,5 Milliarden Dollar ein, wohl wissend, dass nicht die geringste Chance auf eine vollständige Rückzahlung besteht. Für die weiteren 22,5 Milliarden sollen "Staaten oder Staatengruppen wie die Europäische Union" aufkommen.
Im Jahr 2015 wird die Schuldenlast der Ukraine nach IWF-Angaben 100 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, sodass bereits die ersten IWF-Tranchen vollständig für deren Tilgung ausgegeben wurden. Davon werden allerdings nicht die enormen ukrainischen Schulden bei Russland bezahlt, sondern zunächst Banken und private Gläubiger aus dem Westen. Die Finanzministerin Natalja Jaresko, gebürtige Amerikanerin aus einer Familie ukrainischer Migranten, benutzte eine auch in der EU berüchtigte Formel für die Ausgabenpolitik: "Die größte Herausforderung ist die Stabilisierung des Finanz- und Bankensystems."
Radikales Kürzungsprogramm
Dieses Argument mag sogar bei Teilen der ukrainischen Bevölkerung auf offene Ohren treffen, denn das dramatischste Problem im Alltag unter der neuen Regierung besteht in einer rasanten Inflation. Löhne, Gehälter und Ersparnisse verlieren blitzschnell ihren Wert. Falls sich einige der Protestierenden auf dem Maidan erhofft hatten, dass sich dadurch die wirtschaftliche und soziale Lage in der Ukraine verbessert, müssen ihre Hoffnungen bitter enttäuscht worden sein. Durch den Bürgerkrieg wurden die Industrieregionen im Osten des Landes an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Ein landesweites Problem erwächst daraus für die Energieversorgung. Im vergangenen Winter kam es täglich zu großflächigen Stromabschaltungen, weil die Versorgung mit Steinkohle aus der Donezk-Region ausfiel. Die Kiewer Regierung hatte sich geweigert, den Aufständischen entsprechende Lieferungen gegen Vorkasse zu zahlen.
Etwa 30 Kraftwerke mussten zeitweilig ihren Betrieb einstellen, was neben den Privathaushalten die gesamte verbliebene Industrie schädigte. Zahlreiche Industriezweige, historisch eng auf den Austausch mit russischen Zulieferern und Absatzmärkten ausgerichtet, stellten ihre Produktion ein. Gleichzeitig verfielen die Weltmarktpreise für Metalle und Erze, eins der wichtigsten Exportgüter des Landes. Für 2015 prognostiziert der IWF nun einen drastischen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mindestens 5,5 vielleicht aber auch 12 Prozent.
Verbunden mit diesen Zahlen ist ein entsprechender Anstieg der Arbeitslosigkeit. Damit das Land bis 2020 ungefähr das Vorkrisenniveau erreichen kann, zwingt der IWF eines seiner berüchtigten Reformprogramme auf. Während die Ausgaben für Militär und Polizei um ein Vielfaches zugenommen haben, kürzte die Poroschenko-Regierung in den vergangenen Monaten radikal alle Formen der sozialen Grundsicherung. "Gespart wird in einem engen sozialen Segment und betroffen sind die schwächsten Glieder der Gesellschaft", beschreibt Vitaly Atanasov die Situation.
Besonders für bisher kostenlose Formen von öffentlichen Dienstleistungen müssen die ukrainischen Familien nun hohe Gebühren entrichten: von der Vorschul- bis zur Hochschulbildung, für das Gesundheitssystem, den öffentlichen Nahverkehr und und Infrastrukturen. Renten und Arbeitslosenbeihilfen wurden gekürzt. Gleichzeitig steigen Mieten und Nebenkosten für Wasser und Energie rasant an.
Tägliche Proteste
Der drastische Sozialabbau führt inzwischen täglich zu Protesten in den größeren Städten des Landes. Zuletzt marschierten Anfang Mai tausende Bergarbeiter aus der Kohleindustrie in die Hauptstadt und verlangten den Rücktritt des zuständigen Ministers, Wolodimir Demchischin. Allerdings verhandeln die ukrainischen Gewerkschaften inzwischen aus einer deutlich geschwächten Position. Saßen ihre Vertreter im alten Parlament noch in sämtlichen Fraktionen, haben sie unter der Poroschenko-Regierung fast keinen einzigen Abgeordneten mehr. Stattdessen besetzten die Maidan-Parteien ihre Fraktionen mit Aktivisten aus den Freiwilligenbataillonen.
Angesichts der dramatischen Situation ergreifen sogar in Deutschland Gewerkschafter die Initiative, um ihren ukrainischen Kollegen praktische Unterstützung zukommen zu lassen. "Zunächst brauchen die Kollegen in den Gewerkschaften dringend praktische Hilfe. Aber wir wollen vor allem die Bewegungsfreiheit der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützen. Dabei gehen wir auf alle Kräfte zu, die gegen eine militärische Lösung des aktuellen Konflikts auftreten", erläutert einer der Initiatoren, Jochen Gester, die Ziele der Spendensammlung gegenüber Telepolis.
Was die deutschen Gewerkschafter mit "Bewegungsfreiheit" meinen, zeigte sich erst kürzlich, als einer ihrer ukrainischen Kollegen nach Kiew zurückkehrte. Weil er im Ausland über die kritische wirtschaftliche und soziale Lage informiert hatte, wurde er kurzerhand entlassen. Es ist nur ein Fall unter vielen, die darauf hinweisen, dass die innenpolitische Stimmung zunehmend repressiv wird. Seit Oktober vergangenen Jahres kam es zu zahlreichen Todesfällen unter oppositionellen Politikern und Journalisten. Mitte April ermordeten Unbekannte den regierungskritischen Journalisten und ehemaligen Chefredakteur der Tageszeitung Segodnja, Oleg Busina. Am Abend zuvor erschossen die Täter den früheren Abgeordneten Oleg Kalaschnikow aus der "Partei der Regionen" (Eine "Ukrainische Aufständische Armee" will für die Mordanschläge verantwortlich sein).
"Das ist nur die Spitze des Eisbergs", erklärt ein ukrainischer Aktivist, der lieber anonym bleiben will, gegenüber Telepolis. "Seit Februar 2014 finden täglich Übergriffe auf Journalisten, Gewerkschafter und politische Aktivisten statt, die kritisch zu der Entwicklung seit den Maidan-Protesten eingestellt sind." Von den zahlreichen Todesfällen in diesem Zusammenhang, darunter viele scheinbare Selbstmorde von ehemaligen Janukowitsch-Anhängern, wurde bisher keiner aufgeklärt.
Internationale der Raubritter
Nach neuesten Umfragen des Kiev International Institute of Sociology (KIIS) kommt die Regierungspartei Narodni Front von Arseni Jazenjuk nach einem halben Jahr an der Macht gerade noch auf 4 Prozent Zustimmung landesweit. Die politische und kulturelle Spaltung des Landes besteht dabei unvermindert weiter.
Während allerdings landesweit eine Mehrheit der Ukrainer für Zugeständnisse im Donbass-Konflikt und eine Abkehr vom zentralisierten Einheitsstaat eintritt, kommt von Regierungsseite weiterhin nur Kriegsrhetorik. Entgegen aller Absprachen im Februar in Minsk verweigern Regierungsvertreter bis heute den direkten Dialog mit den Aufständischen in den Volksrepubliken. Auch eine akzeptable Lösung für eine Autonomie-Regelung liegt in weiter Ferne.
Aus der Perspektive der neuen Elite in Kiew macht diese - auf Außenstehende vollkommen irrational wirkende - Konfrontationsstrategie durchaus Sinn. Das zentrale Projekt der neuen Regierung scheint es keinesfalls zu sein, die eigene Wirtschaft voranzubringen, sondern internationale Hilfsmittel abzugreifen und in die eigenen Taschen umzulenken. Dafür generierte die neue politische Kaste im vergangenen Jahr ein Phantasie-Projekt nach dem anderen, die alle aus internationalen Hilfsgeldern finanziert werden sollten.
Den Höhepunkt dieses Theaters bildete das Projekt, an der 2000 Kilometer langen Grenze mit Russland eine Mauer zu errichten. Dafür rückte etwa das Nachbarland Polen einen Kredit von 100 Millionen Euro heraus. Mit der Finanzierung durch den IWF, die Europäische Entwicklungsbank und verschiedene NATO-Töpfe haben die neuen Technokraten in der Hauptstadt also ein einträgliches Auskommen gefunden.
Wie die internationalen Gelder in der Ukraine eingesetzt werden, illustriert aktuell die Insolvenz der staatlichen Bahngesellschaft Ukrzaliznytsia. Im Jahr 2014 hatte die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) einen Kredit in Höhe von 200 Millionen Euro an das Unternehmen ausgezahlt, mit dem die Eisenbahnstrecken und andere Infrastrukturen saniert werden sollten. Von irgendeiner Form der Sanierung lässt sich seitdem zwar nichts erkennen. Dafür erhöhte das öffentliche Unternehmen zuletzt im Februar die Beförderungsgebühren um ein Drittel. In der vergangenen Woche kündigte das Unternehmen nun Insolvenz an, was nach Ansicht zahlreicher Beobachter nur der erste Schritt für eine Privatisierung ist.
Nach Ansicht von Walerij Woschchevskij, seines Zeichens Minister für Infrastrukturen, sei die Privatisierung der Bahn und der staatlichen Straßenbauagentur Ukravtodor ohnehin nötig, um "die Korruption zu reduzieren", selbstverständlich erst nachdem die 200 Millionen Euro an EU-Geldern in das Unternehmen flossen.