Schockwellenreiter

Bild: Janneke

Die zweite Welle: Risiko als Mittel politischer Strategie

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Eine Woge neuer Begriffe schwappt über. Sie sind erklärungsbedürftig, weil sie uns bis vor kurzem kaum je begegnet sind. Auch unabhängig davon ist fraglich, ob sie bedeuten, was sie zu meinen scheinen.

Was genau ist eine "Risikogruppe"? Löst die "Risiko-Personen"-Liste nun die Terroristenliste ab? Nach welchen Kriterien werden wir ihr zugeordnet? Durch Gesundheits- oder durch Gewissens-Tests? Wie funktioniert "framing"? Warum sind alle Kritiker von Regierungsmaßnahmen plötzlich "Nazis"? Sind wir unterwürfig oder diszipliniert, wenn wir Distanz halten und dabei unsere sozialen Kontakte dem "Krieg gegen das Virus" opfern?

Manchmal ist es nützlich, sich dümmer zu stellen als man ist. Dann entbirgt die Sprache, was schon immer in ihr steckte und nur verschüttet war. Es zeigt sich auch, was erst kürzlich in sie hineingetragen wurde und mit welcher Absicht.

Im ersten Teil des Essays "Schockwellenreiter" schaue ich deswegen hinter die Maske und behaupte, dass wir erst, wenn wir die Absichten hinter der Wortwahl verstanden haben, in die Klasse der "Schockwellenreiter" aufsteigen können, die Gruppe jener souveränen, schwer zu fassenden Individuen, die der Autor John Brunner in seinem weitsichtigen Roman 1975 beschreibt. Sie surfen auf der Schaumkrone der täglichen Schocks, die gegen den Strand unseres Lebens anbranden.

Nur wer sich nicht von dem Begriffsstrudel herunterziehen lässt, geht gestärkt aus dem Schlamassel hervor. Nur wer die Fähigkeiten eines "Schockwellenreiters" entwickelt, kann "Zukunft" als selbstbestimmte Form des Lebens etablieren.

Falls wir uns in den Brechern richtig bewegen und danach heil zurück an Land kommen sollten - keine kleine Aufgabe selbst für professionelle Rettungsschwimmer - werden wir allerdings nicht mehr die "Normalität" von Gestern vorfinden.

Das ist nicht nur banal, sondern auch gut so. Denn die "Normalität" von gestern ist das Problem, das wir heute ausbaden.

Die dritte Welle

Den "Zukunftsschock" bezeichnen ihre Erfinder, die Futuristen Alvin und Heidi Toffler, auch als "Dritte Welle". Das erinnert natürlich an die aktuell viel besungene "zweite Welle". Die zweite und dritte Welle liegen, trotz gänzlich unterschiedlicher Ursprünge, bei genauerer Betrachtung enger zusammen, als manchem lieb sein dürfte. Ich versuche, das trotz der hohen Komplexität des Zusammenhangs möglichst simpel zu erklären.

In New Scientist sprechen die Autoren im Jahr 1994, also 30 Jahre nach Publikation ihres Textes über die "Zukunft als Lebensform", der für John Brunners Roman "Schockwellenreiter" titelgebend war, über eine weit zurückliegende Zeit (die 1960er Jahre), die von gewaltigen technologischen Umbrüchen bestimmt war. Insofern kommt sie unserer jetzigen Zeit recht nahe.

Zwischen 1955 und 1960 wurde die Antibabypille eingeführt, das Fernsehen wurde universalisiert, der kommerzielle Jet-Reiseverkehr entstand .... Unsere Ideen kamen 1965 in einem Artikel mit dem Titel 'Die Zukunft als Lebensform' zusammen, in dem argumentiert wurde, dass der Wandel sich beschleunigen würde und dass die Geschwindigkeit des Wandels bei vielen Menschen Desorientierung hervorrufen könnte.

Wir prägten den Ausdruck "Zukunftsschock" in Analogie zum Begriff des Kulturschocks. Bei einem Zukunftsschock bleibt man an einem Ort. Aber die eigene Kultur verändert sich so rasant, dass sie die gleiche desorientierende Wirkung hat wie der Wechsel in eine andere Kultur.

Alvin und Heidi Toffler

Setzt man "Vielfliegerei" anstelle von "Jetreiseverkehr", "Internet" anstelle von "Fernsehen" und betrachtet die aktuell diskutierte Überbevölkerung, den Hunger und die zu seiner Abwendung angeblich alternativlose industrielle Landwirtschaft mit ihren wahnwitzigen Folgen ("Big Farms make big Flu") im Kontext des Tofflerschen Stichwortes "Antibabypille", die sie als "Technologie" gleichbedeutend neben Medien und Verkehrsmitteln setzen, dann ergibt sich ein recht aktuelles Bild aus dem immerhin 25 Jahre alten Interview.

Regieren mittels Verbrechen

Als ich für diesen Text zum Stichwort "Risiko" recherchiert habe, bin ich - kaum überraschend - auch jenseits von John Brunner wiederholt auf die Tofflers gestoßen. Eine Stelle war besonders verblüffend: in einem Text über "Gewalt, Rache und Risiko … im neoliberalen Staat" von Jonathan Simon, Professor für Rechtswissenschaften an der Universität von Miami.

Den Beitrag hatte mein ehemaliger Professor im Fach "Soziologie des abweichenden Verhaltens und der sozialen Kontrolle", Trutz von Trotha, mithin kurz nach dem Toffler-Interview im New Scientist, in seinem Sammelband "Soziologie der Gewalt"1 veröffentlicht. Der Text behandelt die "Risikogesellschaft" unter der Bedingung der "Informations-Revolution". Die Informations-Revolution ist exakt, was die Tofflers mit der "Dritten Welle" meinen.

In der "dritten Welle" werden "Ordnung und Daseinsvorsorge besser durch die Entscheidung von Leuten gewährleistet, die außerhalb des Staates, ja selbst außerhalb der etablierten Einrichtungen des Expertenwissen … zu finden sind."

Ein Schelm, der jetzt denkt, ich würde mit diesem Zitat auf den Informationsrevolutionär und Nichtmediziner Gates anspielen! Es geht hier um eine Struktur, nicht um Einzelpersonen.

Jonathan Simon wird gleich im folgenden Satz noch deutlicher:2

In einer gänzlich umgewandelten postindustriellen Gesellschaft werden Entscheidungen in der Gesundheitsvorsorge … so weit wie möglich durch Verträge und persönliche Entscheidungen zwischen Konsumenten und Anbietern geregelt.

Jonathan Simon

Kaum eine Seite weiter kommt er zu dem entscheidenden Punkt, dass sich die wirklichen Veränderungen in dieser Gesellschaft "zwischen den Staatsfunktionen" abspielen. Die Tendenz geht weg von Wohlfahrtsstrategien zur Förderung von Einkommen und Lebensstandard. Das Resultat jener Wandlung sind "Regierungsbemühungen", die sich vollkommen auf "Kriminalitätsfurcht und Parteinahme für Opfer", letztlich auf Überwachen und Strafen richten. Simon nennt diese politische Kultur "Regieren mittels Verbrechen".

Mit "Kriminalitätsfurcht" ist die (methodisch erzeugte) Angst vor einer Zunahme von Verbrechen gemeint. Nun ist eine pandemisch wirkende Virus-Erkrankung noch kein Verbrechen - jedenfalls nicht, solange man die Ursachen erfolgreich ausblendet. Doch das Sich-Einfühlen in die Opfer geschieht immer dann, wenn die Bürger glauben, jedermann könne jederzeit von einer Gefahr betroffen sein.

Simons heutzutage gut nachvollziehbare These ist deswegen, dass ein Herrschen durch Hervorhebung der Bedrohung jene Form von Staatlichkeit sei, die konsequent aus der "Dritten Welle" erwächst. Die Verschiebung wesentlicher Aufgaben des Staates in Richtung auf Plattform-Unternehmen und global operierende Konzerne geht schlussrichtig mit der laufenden "Digitalisierung" einher.

Das Opfer im Zentrum demokratischer Bürgerschaft

Sobald die kollektiven Formen sozialer Sicherheit zerstört sind, setzt eine "volkstümliche Obsession mit Gewalt und Rache" (Simon) ein. Auf soziale Probleme (die Ursachen der Kriminalität) wird seitens des Staates mit Härte reagiert. Das Volk begrüßt das - der unaufhaltsame Aufstieg des Olaf Scholz nach G20 belegte jüngst diese Erfahrung auch für Deutschland.

Wenn der Markt die Frage von besseren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen und einer guten Gesundheitsvorsorge nach dem Prinzip des "rein private(n), den eigenen Vorteil suchende(n) Handelns definiert", steigt laut Simon das Opfer in das "Zentrum … demokratischer Bürgerschaft" auf.

Als ich diese Zeilen las, leuchtete mir der Sinn der Rede von der "Risikogruppe" plötzlich ein. Nicht als schutzwürdiger Personenkreis, der unsere Fürsorge verdient. Sondern als Themenangebot, eine persönliche Risiko-Erfahrung zum allgemeinen Interesse zu erheben und dafür mit großer Straflust die notwendige Disziplin (zur vermeintlichen Risiko-Vermeidung) einzufordern.

Insofern war spätestens seit 55 Jahren absehbar, dass der Wandel - weg von der verfassungstreuen Demokratie hin zu dem, was Michel Foucault und andere als Neoliberalismus bezeichnet haben - uns eines Tages, noch dazu genau um das Thema "Gesundheit" herum, mit einer uneinschätzbaren, weil radikal neuen Form von organisierter Kriminalität konfrontieren würde, deren Akteure die erwähnten "Leute außerhalb des Staates" sind.

Die Unterwürfigen

In der Pressekonferenz vom 06.05.2020 sagte die Bundeskanzlerin etwas, das zu näherer Betrachtung einlädt:

Der Reproduktionsfaktor liegt konstant bei unter eins. ... Deshalb stehen wir jetzt an einem Punkt, an dem wir sagen können, dass wir das Ziel, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen, erreicht haben.

Angela Merkel

Es ist deswegen schwer nachvollziehbar, um nicht zu sagen: völlig unklar, wie die Kanzlerin daraufhin zu dem Schluss gelangt:

Aber uns muss immer bewusst sein, dass wir damit trotzdem immer noch am Anfang der Pandemie stehen und noch eine lange Auseinandersetzung mit dem Virus vor uns haben.

Angela Merkel

Mehr als bewusst sind uns allen die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, ihre Folgen wie häusliche Gewalt und Depression. Unklar ist uns jedoch die Länge der bevorstehenden "Auseinandersetzung". Bereits am 10. Mai 2020, vor "offiziellem" Beginn der "zweiten Welle", sind laut der Marktforscher von Kantar 2,1 Millionen Deutsche in ihrer Existenz bedroht.

Was lässt sich aus diesem Widerspruch ableiten? Entweder die Kanzlerin sagt uns nicht alles, was sie über die Gefährlichkeit des Virus weiß. Oder geht es gar nicht um die Wirkung des Virus auf unsere Gesundheit?

Die Kanzlerin führt weiter aus:

Die ganze Bundesrepublik ist auf Vertrauen aufgebaut.

Angela Merkel

Wir müssen schon glauben - und nicht zu viel nachfragen. Das bringt uns vom geraden Weg ab.

Auch wenn wir jetzt hinter unseren Masken ein wenig "aufatmen" dürfen, muss uns klar sein: das alles (jetzt schon "konstant bei unter eins" zu liegen) ist nur deswegen so gut verlaufen, weil wir so "diszipliniert" waren. (Merkel, 18.3.2020): "Es wird nicht nur, aber auch davon abhängen, wie diszipliniert jeder und jede die Regeln befolgt und umsetzt.")

Man muss kein Leser der Bücher von Michel Foucault sein, um die politische Klang-Farbe in dem Wort "diszipliniert" zu hören. Wer in einer aufgeklärten, (christlich-) sozialen Demokratie lebt und einer Anordnung folgt, die in entscheidenden Aspekten wie "Gefährlichkeit" und "Ursache des Problems" weitestgehend ungeklärt ist, und trotzdem sein Leben von Grund auf verändert, der verhält sich nach meiner Einschätzung unterwürfig, nicht (selbst)diszipliniert.

In der einmal eingeführten Logik der Kanzlerin sekundiert Markus Söder in der gleichen Presseerklärung:

Die Mutter aller Fragen ist die Kontaktbeschränkung.

Markus Söder

Was ist das eigentlich für ein Un-Wort? Was genau meint es?

Kontaktbeschränkung steht im gängigen Sprachgebrauch seit Beginn der COVID19-Krise dem ebenso befragenswerten Wort "Lockerungen" systematisch gegenüber. Lockerungen verraten, dass der Griff der Kontaktbeschränkung auf unser Leben fest ist. Lockerungen tönen, insbesondere in ihrem notorischen Plural, unerwünscht. Wenn es Lockerungen gibt, geht die Disziplin flöten.

Das alles sind frische Sprachregelungen. Den Inhalt füllt die Praxis auf.

Je länger wir das semantische Feld erforschen, umso mehr Merkmale finden sich für die "Fabrikation des zuverlässigen Menschen", den mein damaliger universitärer Lehrer in Verwaltungswissenschaften, Hubert Treiber, und Heinz Steinert schon 1980 in ihrem gleichnamigen Buch ermittelt haben wollten. Der zuverlässige Mensch ist also kein Naturphänomen, sondern ein Produkt "nützlicher Disziplinierungstechniken".

Der Begriff Kontaktbeschränkung steht beschönigend für das viel deutlichere Wort Ausgangssperre. Schon in der zweiten Zeile des entsprechenden Wikipedia-Eintrags findet sich das Wort "Kaserne". Unsere Kasernierung wird zur "häuslichen Quarantäne" umgedeutet, um die angenehmen Aspekte der Häuslichkeit und des endlich einmal Zuhause-Sein-Könnens hervorzuheben. Noch einmal Wikipedia: die "Übergänge von freiwilliger Absonderung" zur Anordnung der Isolierung seien fließend.

Kontaktbeschränkung ist ein strafbewehrtes Verbot. Wenn wir uns nicht freiwillig unterwerfen, werden wir diszipliniert.

Diese Begriffsinhalte und Verweise im Kopf, stoße ich auch in der fraglichen Presseerklärung wieder auf das Wort "Risikogruppe". Risikogruppe scheint mir das Gelenkstück der ganzen Argumentation zu sein, warum wir hinzunehmen haben, was wir im Moment erdulden. Ohne Risikogruppe keine Notwendigkeit zur Beschränkung. Ohne Opfer keine Strafverfolgung.

Das Wort bringt mich dazu, in dem folgenden Kapitel den Begriff Risiko anhand eigener Erinnerungen an zurückliegende Katastrophen zu hinterfragen.