Schockwellenreiter
Seite 4: Risiko-Personen
Es gibt im Zusammenhang mit dem Kampf gegen das Virus zwei Sorten Risiko-Personen: Gefährdete und Gefährder, die eine ausreichende Disziplin vermissen lassen. Schauen wir zusammenfassend noch einmal auf die Konstruktion der Gefährdung.
Mit dem Aufkommen des Begriffs Risikogruppe wird das Risiko, gemeinhin als Einzelschicksal gesehen, zum kollektiven Los. Über die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ist der Einzelne der Entscheidung enthoben.
Es gab einen Satz, der am Anfang der Pandemie quasi in jedem E-Mail meiner älteren oder "vorerkrankten" Freunde stand. Er lautete: "Ich als Mitglied der Risikogruppe…". Das war unglückseligerweise nicht immer ironisch gemeint.
Die staatliche Zuordnung zu einer Risikogruppe, dieses symbolisch an die Brust geheftete Etikett ("Meide das Risiko!"), die Kennzeichnung: "nicht wie die Anderen", sollten aber gerade wir Deutschen aus Zeiten des Faschismus als besonders unerträglich in Erinnerung behalten haben. Gemeint war damals: die Leute, die ein Risiko für die Gesamtgesellschaft darstellen; gemeint ist heute zwar: riskant für sie selbst, sobald sie sich mit den anderen mischen. Doch es bleibt der bittere Geschmack der Auswahl und Entfernung aus dem Zusammensein. Insofern steckt im Begriff der Risikogruppe schon ihre gewaltsame Absonderung aus der Gesellschaft.
So versteht man: Die Deutschen haben offenbar - ganz anders als z.B. die Niederländer - ein kulturell schwieriges Verhältnis zur Quarantäne.
Die Sorge um die Risikogruppe irritiert besonders deswegen, weil mir nicht erinnerlich ist, dass es in Deutschland je ähnlich umfangreiche, vorsorgliche Maßnahmen gegeben hätte, um sogenannte "Krankenhauskeime" zu bekämpfen. Noch sind mir je täglich publizierte Listen und Landkarten mit den Todesfällen durch Krankenhauskeime untergekommen - so wie es mit der Corona-Landkarte des Robert-Koch-Instituts (das sog. C-Dashboard) jetzt der Fall ist. In allen Zeitungen nehmen statistische Displays prominente Plätze ein, obwohl sie dem Laien wenig sagen.
Ich vermisse zudem die täglich artikulierte Sorge darüber, dass in den Profitmaschinen namens "Altenheim" an Dekubitus leidende Menschen mit offenen Rücken in sündhaft teuren Roboterbetten rotiert und mit Zwangsernährung oft gegen ihren Willen am Leben erhalten werden - womöglich nur, weil jeder Tag mehr unendliche Mengen Geld fließen lässt?
Schierer Altruismus kommt als Antrieb jedenfalls eher nicht in Frage. Wer heute einen Anlageberater fragt, wohin er seine Millionen stecken soll, bekommt zur Antwort, dass die Investition in Pflegeheime nicht nur eine fürstliche, alles andere überbietende Rendite verspricht, sondern dass es im Gegensatz zu ähnlich lukrativen Modellen wie Flüchtlingsunterkünften eine sichere Sache sei, weil vom politischen Willen unabhängig. Alt werden wir alle. Die künstliche Verlängerung des Lebens durch Pharmazeutika und Medizintechnik trägt das ihre dazu bei.
Die Rede von der "Kontakt-Beschränkung" trägt ja nicht zufällig das Wort "Schranke" in sich. Dass es beim Lockdown und der Markierung von Risikogruppen, die gewissermaßen im bereits abgeriegelten Gebiet noch einmal in einer Sperrzone hinter Schranken ausgegrenzt werden, nicht um den Schutz des noch nicht gänzlich aufgebrauchten Lebens geht, ist wohl offenkundig.
Es fehlt jedoch an einer intensiven Diskussion, welche Interessen denn sonst hinter der sowohl medizinisch wie ethisch fragwürdigen Bezeichnung Risikogruppe stehen.
In der Summe aller schädlichen Folgen ist die Erfindung des Begriffs Risikogruppe das wahrscheinlich größte politische Verbrechen der COVID-19-Ära.
Er ist nicht nur eine ganz große christlich-soziale Lüge, sondern stellt eine Art Testlauf dar, um beliebige Gruppen durch Zuschreibung eines Risikos aus der Teilnahme am gesellschaftlichen Alltag auszugliedern.
Wenn das Prinzip "Risikogruppe" unwidersprochen funktioniert, dürfte das der Anfang vom Ende einer solidarischen Gesellschaft sein. Das Ziel des klugen Bürgers sollte ab jetzt also sein, dafür zu sorgen, nicht auf diese neue Terroristenliste zu kommen: die "Risiko-Personen"-Liste!
Fazit
Zukunft unter dem Zeichen von Pandemien bedeutet, sich in einem Leben mit Schockwellen häuslich einzurichten. Nur wer auf den Schockwellen zu reiten vermag, geht nicht in ihnen unter. Die Rede von der "zweiten Welle" (der Infektionen) ist die Vorschau auf den Umstand, dass die Schockwellen permanent sein werden.
Um das Thema "Gesundheit" herum organisiert sich der Überlebenskampf nach Mustern einer Wirtschaftsordnung, die, obwohl unübersehbar größter Auslöser von Risiken, sich selbst nie in Frage stellt.
Warum ist das ein Problem? Unsere Praktiken der Nahrungsmittelerzeugung, unser Reiseverhalten, unser Energiebedarf, heute vermehrt durch die "dritte Welle", den endlosen Kommunikationsbedarf und seinen unvorstellbar gewaltigen Stromhunger, und schließlich unsere Ideologie des endlosen Wachstums, insbesondere sichtbar in den erforderlichen Zuwachsraten eines frei drehenden Finanzsystems, gelten nicht nur als alternativlos. Sie fühlen sich wünschenswert an. Ein Placebo für "Freiheit".
Die einzige Bedrohung entspringt einer Mikrobe, die nicht einmal im klassischen Sinn als lebendig gilt. Es versteht sich, dass dagegen unkonventionelle Methoden der Bekämpfung notwendig sind. Trotz "shutdown": Engpässe sind fortan verboten. Es steht das Wiederaufbauprogramm "Corona-Soforthilfe" in jeder beliebigen Höhe zur Verfügung. Für den Kulturerhalt sind ausschließlich der Finanzminister und die Virologen zuständig. Beide regieren mit dem Begriff der nützlichen Deregulierung.
Kritiker dieser Ordnung verbannen wir mit Methoden des "framing" ins Jenseits des politisch Akzeptablen. Die Gesellschaft zerlegt sich somit in einen verfemten und einen gefährdeten Teil.
Die Erfindung der Risikogruppe platziert das Opfer in den Kern der bürgerlichen Gesellschaft. Dort, wo Zusammenhalt und die Lösung sozialer Probleme stehen müssten, wird "mit Verbrechen regiert". Jedes der sieben Milliarden Suspekte, zu denen wir mutieren, begründet schon rein durch seine risikobehaftete Existenz, wozu Totalüberwachung, Hausarrest und harte Strafen für disziplinloses Verhalten notwendig sind.
Das Beharren auf die Gesundheit der Menschen - wohl gemerkt: ohne sie für alle zu garantieren - ist ein egoistischer Ansatz, der gewaltigen Schaden nach sich ziehen wird, wenn es nicht gelingt, die "erdpolitische" Dimension mit in den Blick zu bekommen. Was, wenn nicht eine Pandemie, könnte uns schlagartig mehr für die Folgen unseres Handelns sensibilisieren?
Wir sind heute stärker denn je gezwungen, nichts mehr auszublenden. Wenn wir die Ursache unserer Erkrankung erkennen wollen, müssen wir die Erde als System verstehen - ein System, das wir schwer verletzt haben. Aus der Wunde strömt die Antwort: Wir müssen uns ändern!
Diese Einsicht verbreitet inzwischen sogar Jupp Heynckes im "Kicker":
Das Coronavirus wird nicht das letzte Problem bleiben, wir müssen unseren Lebensstil, der auf immer mehr Profit ausgerichtet ist, ändern.
Jupp Heynckes
Die "Gesundheit unserer einen und einzigen Welt" (UN-Sonderbeauftragter Maurice Strong auf der Stockholmer Konferenz über eine menschliche Umwelt 1972!) ist nicht abzukoppeln von der Gesundheit ihrer Bewohner.
Was könnte einen stärkeren Nachdruck auf die Bedeutung nachhaltigen Wirtschaftens legen? Wir müssen lernen, Lebensqualität vor materiellen Zuwachs zu setzen. Dazu muss Reichtum schrumpfen. Hier stehen wir vor dem größten Widerspruch. Niemand stellt sich an die Spitze eines Staates oder Konzerns, um mit allen gerecht zu teilen. Spenden: ja - für den guten Ruf. Teilen - nein.
Es gibt einen Ausweg. Wir haben unseren Kopf nicht erhalten, um ihn abzuschalten. Falls uns die heute fühlbare Konfrontation mit dem drohenden Kollaps nicht zur Besinnung bringt, wenn wir weiter "Leuten außerhalb des Staates" gestatten zu entscheiden, uns alle nach den Regeln des Risikokapitals zu managen, statt die Gesundheit der Erde zu sichern, erlischt allerdings unsere Berechtigung auf gesundes Fortbestehen.
Wenn wir jetzt denen, die die Krise nutzen wollen, bereits errungene Fortschritte in der Energiepolitik zurückzudrehen oder auf Pharmakologie (die Behandlung der Folgen) statt auf Ökologie (die Behandlung der Ursachen) zu setzen, keinen Einhalt gebieten, ist das Projekt Menschheit verloren.
Wir haben keine Chance für eine "vierte Welle".
Das System ist nicht reparabel mit den Mitteln, die es zerstört haben.
Der Blog-Beitrag mit den weiteren Illustrationen steht hier.
Olaf Arndt, ist Autor und Herausgeber der Zeitschrift "Die Aktion 4.0".
Auf seinem Blog, wo auch die Zeitschrift erscheint, veröffentlicht er eine Reihe mit Diskussionen zu den sozialen Folgen von Corona. Dort sind auch Informationen zu erhalten über seinen Roman "Unterdeutschland", der sich mit dem gleichen Thema befasst.