Schockwellenreiter

Seite 3: Regularien außer Kraft setzen

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Meine Ausführung über Framing und Gehirnwäsche sind natürlich kein Plädoyer für die Wiedereinführung von Contergan. Denn die Botschaft der erwähnten Werbung, die meine Abschweifung zur sozialen Isolation ausgelöst hat, Contergan würde gegen "Zivilisationskrankheiten" helfen, war ein früher Fall von "fake news".

Framing hilft uns ganz sicher genau so wenig wie damals das Mittel Contergan gegen die üblen Folgen des "lockdown", nicht gegen zwangsweises Sitzen, nicht gegen Fehlernährung im Hausarrest und nicht gegen die täglichen Schocks, den Stress, der aus dem Gefühl vollständiger Ohnmacht resultiert und auch nicht gegen die Schlaflosigkeit aus innerer Unruhe darüber, wie es denn eigentlich weiter gehen soll mit dieser Welt - und für einen selbst, beruflich. Von den körperlichen Folgen permanenter Angst vor Ansteckung ganz zu schweigen.

Medikamente lösen niemals soziale Probleme. Das gilt auch und insbesondere für Impfstoffe.

Als Folge des Contergan-Skandals jedenfalls wurden Mitte der 1960er Jahre die Regularien für die Zulassung von Arzneimitteln extrem verschärft. Das hatte - wie man sieht - einen guten Grund.

Am 4. April 2020 forderte der Virologe Christian Drosten - ich bin versucht zu sagen: im Namen der Kanzlerin - "Regularien außer Kraft zu setzen". Es gilt, die Impfgegnerschaft abzudrängen, sie ins "off" der gesellschaftlichen Akzeptanz zu schicken. Dazu muss schnell ein Impfstoff her, bevor sich der Widerstand dagegen auf breiter Basis formiert hat.

Angesichts der Lage "müssen wir ein kleines Risiko in Kauf nehmen", sagte Drosten mit Blick auf mögliche Nebenwirkungen eines Impfstoffs, der nicht die üblichen Phasen der klinischen Erprobung durchläuft. "Für so ein Risiko müsste dann der Staat haften", fordert der Chef der Virologie der Berliner Charité.

Mit diesem Risiko kann zweierlei gemeint sein: das gesundheitliche Risiko eines nicht ausreichend geprüften Impfstoffes. Hierzu geben gewisse Formulierungen über "Impfgeschädigte oder deren Hinterbliebene" Anlass, die beispielsweise im Entwurf des "Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie" vom April 2020 verwendet werden.

Es könnte aber auch schlicht, eingedenk der Impf-Verweigerung nach der Schweinegrippe 2009, das wirtschaftliche Risiko, auf unverbrauchtem Impfstoff sitzen zu bleiben, gemeint sein.

Auf das Finanzielle deutet auch schon die Wortgeschichte von "Risiko": Der Ursprung des Wortes ist strittig. Es mag wohl aus der italienischen Seefahrersprache entlehnt sein. Dort bedeutet es "Klippe" oder bezeichnet eine von Untiefen ausgehende Gefahr für den Schiffsverkehr.

Das etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von Kluge (1999) benennt abweichend eine vorromanische Form riscare als Stammwort, eine Ableitung vom lateinischen rixari ("streiten, widerstreben"), das "unkalkulierbare Folgen eines Widerstands im Kampf" bezeichnet.

Das Wörterbuch von Pfeiffer legt Nachdruck auf das geschäftliche Wagnis, die Bedrohung für eine Unternehmung, die an jener Klippe scheitern könnte. In diesem Sinn auch Grimm's Wörterbuch: "er risquirt sein ganzes vermögen zu verlieren."

Ein Staat mag möglicherweise ein solventerer Anspruchsgegner sein als eine GmbH. Doch die Schadenskompensation in Geld ist immer Ausdruck der Hilflosigkeit der Allgemeinheit gegenüber dem Schicksal, das den Einzelnen ereilt und das nicht reversibel ist. Nichts kann das individuell erlittene Schicksal des Geschädigten ändern und das Erlebte und Erlittene ungeschehen machen.

Im Raum steht damit die Frage: wenn die Folgen des Risikos vergesellschaftet werden sollen - passiert dann auch das Gleiche mit dem zu erwartenden Gewinn aus dem Einsatz des Impfstoffes?

Das "Blutbad-Potential"

Die Wucht der zweiten Welle wirkt besonders gewaltig durch Statistik. Zu einem Mitglied der Risikogruppe wird man durch statistische Werte. Übersterblichkeit ist zunächst einmal ein rein statistischer Wert, aus dem sich natürlich einiges ablesen lässt. Der Wert taugt allerdings nur, wenn er - außerhalb der Statistik - ins Verhältnis gesetzt, jenseits der schieren Zahl kontextuell (bspw. hinsichtlich regionaler Bedingungen) interpretiert wird.

Dabei ist die Aussagekraft von Zahlen immer wieder umstritten. Zahlen haben einen wesentlichen Mangel: Sie sprechen nicht von selbst. Sie müssen immer in Sprache übersetzt werden, um sie verstehen zu können.

Triage ist ein konkretes, fatales Problem im Krankenhaus, das eine praktisch nicht zu bewältigende ethische Herausforderung darstellt. Die Zurückstellung dringender Operationen aufgrund statistisch ermittelter Erwartung großer Massen von Corona-Patienten ist zwar ebenfalls fatal und konkret. Doch ist es die Statistik - nicht das Virus - das für die Folgen einer möglichen Fehlbewertung in Anspruch zu nehmen ist.

Nicht zuletzt: Die "zweite Welle" wird aufgrund mathematisch-statistischer Vorhersagen erwartet. Ihre Kollateralschäden, die psychische Kapitulation der betroffenen Individuen, ebenso wie die Insolvenz vieler Unternehmen, fallen teilweise in die Verantwortung der Statistik.

Mit Statistik wird "die Mitarbeit" der Bevölkerung erzwungen. Die Grenze zwischen Prognose und Drohung ist durchlässig. Wer verstehen will, wie Zahlen in den Dienst der politischen Strategien genommen werden, möge Lorenz Borsche konsultieren.

Mit Statistik begründet der Sachbuchautor das auch andernorts beständig wiederholte Szenario "Das Potential von Corona sind ... 2,4 Millionen Tote". Bedeutsam ist daran nicht die Zahl, sondern das "Potential". Es ist das Wort, mit dem im Moment regiert wird. Woher kommt das Potential?

Borsche zaubert dazu eine magische Dimension in die Statistik: "Epidemiologen und Statistiker mit tiefem Blick sehen allerdings das Grauen im Potential einer solchen Seuche." Der "tiefe Blick" verweist auf eine geradezu mystische Dimension. In den belegbaren Zahlen ist nichts Erschreckendes zu finden. Also erzeugt der Statistiker den Schrecken mittels "vorstellbarer Zahlen".

Wo Zahlen gar nicht mehr passen, greift Borsche auf andere Quellen zu, um sie wieder stimmig zu machen. Der Heinsberg-Studie unterstellt er einen "Kommafehler" mit Faktor 10, weil er nach seiner Denkkette bei 3,7%, statt wie Hendrik Streeck bei 0,37 % Lethalität herauskommen muss. Der herbei zitierte "Beweis" dafür ist die Anzahl der Kondolenzbriefe, die der Landrat des Seuchenherdes versendet hat in der fraglichen Zeit. Sie sei "realistischer", als die geringe Zahl der Toten, die das Team des Virologen ermittelt hat.

Borsche schließt seine Interpretation, die er als "soziologische Hermeneutik", als das gute Gefühl der Experten ausgibt, mit einem Bild wie aus einem Splatter-Movie: "Ohne wirksame Bekämpfung der Infektionskette durch z.B. Lockdown oder einen Impfstoff droht ein Blutbad in der ungeschützten Bevölkerung."

Der Trick mit dem Blut - in solchen Mengen, dass wir in ihm baden können - setzt in uns allen Bilder des Horrors frei. Wir assoziieren Ebola, sehen die Wiederkehr mittelalterlicher Schlachtfelder, Krieg. Das ist die erwähnte Übersetzung der Zahlen in Sprache. Nur durch solche Übertragungsleistungen lösen Zahlen Schockwellen aus.

Die emotionale Infektion

Täglich ließen sich neue Fälle von politisch instrumentalisierter Statistik finden. Viel bedeutsamer als die Meinung eines einzelnen Journalisten - selbst wenn er nah an der Auffassung der Regierung entlang argumentiert - ist allerdings das Verhalten des von der Regierung mit der Kommunikation der Fallzahlen beauftragten Robert-Koch-Institutes. Die "Fallzahlen" sind das einzige Messinstrument für die Gefährlichkeit der Seuche und geben damit den für uns alle relevanten Risikofaktor an.

Das ZDF beschreibt in seinem Beitrag vom 12. Mai 2020 den "Lernprozess auf offener Bühne", den das RKI derzeit durchmacht.

Die Kritikpunkte beziehen sich sämtlich auf den Umgang mit Statistik: - die Summe der Infizierten sei nicht ins Verhältnis gesetzt zu getesten Personen - die Gefährlichkeit (die sog. "Sterblichkeit" oder "Case Fatality Rate") sei überbewertet.

Das RKI habe anfangs sogar von Obduktionen abgeraten, obwohl nur dies "saubere Aufklärung" verspricht (Klaus Püschel) - fehlende Daten resultierten aus fehlendem Personal in den "hotspots" (Matthias Schrappe) - es gäbe mangelhafte Kommunikation im Zusammenhang mit vorhandenen Zahlen: Warum wurde nicht öffentlich verbreitet, dass die Reproduktionszahl schon zwei Tage vor dem Lockdown unter 1 gefallen war, obwohl diese Zahl vom RKI selbst ermittelt worden war?

Der ZDF-Bericht stützt sich bei seiner Kritik auf das 29-seitige Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19: Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren vom 5. April 2020. Einen sehr langen Monat später kommt die Botschaft der kritischen Wissenschaftler-Gruppe aus Köln, Berlin, Hamburg und Bremen im Bewusstsein der Öffentlichkeit an.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Einschätzung des RKI zur hohen Wahrscheinlichkeit einer "zweiten Welle" bereits in aller Munde. Dies ist laut Thesenpapier ein Problem: denn die "Wirksamkeit der containment-Strategie" sei höchst fraglich, weil "eine relevante Immunität der Bevölkerung nicht erreicht werden konnte". (S. 20)

Erst jetzt erkennen wir die Gefahr, dass wiederum ansteigende Zahlen den erhöhten Testkapazitäten geschuldet sind, die das Bild verzerren und eine R-Rate liefern, der einen weiteren Shutdown legitimiert - aber dennoch kein Bild gestiegener Infektionszahlen liefern.

Hinzu trete die schädliche Wirkung einer "emotionale(n) Ansteckung durch Ängste (z.B. Anschwärzen der Nachbarn; Anpöbeln alter Menschen in Discount-Läden; Stigmatisierung)". Das "Erstarken autoritären Gedankengutes" (S.23) mit "Anleihen bei totalitären Systemen... mit ausgebautem Sozialkreditsystem" hätten weitreichende gesellschaftspolitische Folgen.

"Dass die Exekutive die in Zeiten der Krise verliehenen Vollmachten freiwillig wieder 'zurückgeben' wird, ist eher unwahrscheinlich", fürchten die Autoren. Die "demokratische Gesellschaftsform" dürfe nicht gegen "Gesundheit und Bürgerrechte ausgespielt" werden.