Schon der Begriff "Migrant" ist eine Vernebelung
Medienethik: Moralische Imperative, die Angst vor falschen Bewertungen von Daten und Orientierung. Das Problem der Herkunftsnennung im Journalismus. (Teil 2 und Schluss)
Aus "medienethischer Sicht", so heißt es in der "Handreichung zur Reflexion für Journalist*innen und Kommunikationsverantwortliche der Sicherheitsbehörden und der Justiz", erschienen in der Fachzeitschrift Publizistik online, könne keine allgemeingültige Empfehlung ausgesprochen werden.
Teil 1: Welchen Pass hat der Täter? Herkunftsnennungen im Journalismus
Aber: Verantwortungsbewusst handele, wer reflektiere, "welche moralischen Werte durch eigene Entscheidungen tangiert sein können".
Die Offenlegung von Herkunftsinformationen könne die Menschenwürde berühren, zu der das Recht auf Freiheit von Diskriminierung gehöre, "so dass Medienschaffende, Kommunikationsverantwortliche der Behörden sowie ihre Organisationen eine zentrale ethische Verantwortung tragen.
Entsprechend sorgfältige Abwägungen sind aus medienethischer Sicht von Redaktionen, Behörden, einzelnen Journalist:innen und Kommunikationsverantwortlichen immer dann zu fordern, wenn sie eine Abweichung von dem medienethisch begründeten Zurückhaltungsgebot in Betracht ziehen".
Medienethik verlange allerdings "eine realistische Zuschreibung von Verantwortung". Für diskriminierende Schlussfolgerungen aus Herkunftsangaben seien zuallererst die Leser, Hörer und Zuschauer journalistischer Angebote verantwortlich.
Die Hauptverantwortung läge nur dann bei den Medienschaffenden [...], wenn sie explizit verkünden würden, die Gruppenzugehörigkeit sei der Grund für das geschilderte Verbrechen.
Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.
Auch Schweigen problematisch
Thematisiert wird auch das Problem, das durch "Verschweigen" entstehen könne, wenn gleichwohl andere über Tätermerkmale berichten, "nicht-professionelle Akteur:innen, beispielsweise Augenzeug:innen mit Videomaterial oder Nutzer:innen, die Kommentare unter Online-Beiträgen von Medienberichten hinterlassen."
Folge:
Falls sich Medienschaffende oder Kommunikationsverantwortliche gegen eine Erwähnung von Einwanderungsbiografien Tatbeteiligter entscheiden, können solche nicht-professionellen Akteur*innen diese Zurückhaltung konterkarieren.
Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.
Abschließend erläutern die Autoren einige Stichworte zur Abwägung (bspw. Quellenlage, Sachbezug und indirekte Folgen der Berichterstattung), die im Original nachzulesen sind.
Fehlende Differenzierung
Der Tenor des Publizistik-Beitrags entspricht sehr der aktuellen Presserats-Richtlinie: In der Regel soll die Herkunft von Tatverdächtigen nicht genannt werden, wenn sie zu einer "ethischen, religiösen oder anderen Minderheit" gehören.
Für seinen Umfang lässt er allerdings Differenzierungen vermissen, die für die weitere Debatte notwendig wären. Da ist zunächst die Tatsache, dass die beiden skizzierten Akteursgruppen Pro und Contra Herkunftsnennungen für zwei grundverschiedene Anforderungen an den Journalismus stehen, was leider auch in der Qualitätsdiskussion regelmäßig vermischt wird.
Journalistische Beiträge sollen Orientierung geben. Dabei kann zwar ein Überangebot von unwichtigen Detailinformationen lästig werden und wegen begrenzter Aufnahmekapazitäten Wichtigeres verdrängen (Stichwort: Relevanz), aber grundsätzlich wird ein Beitrag (oder eine Berichterstattungsreihe) besser, je mehr Aspekte er zu einem Thema bzw. einer Fragestellung liefert.
Das Ideal ist erreicht, wenn es keine weitere Information mehr gibt, die an der Betrachtung und damit Meinungsbildung noch etwas ändern kann – weil eben alles Notwendige schon gesagt ist. Das Alter eines Autounfallverursachers wird deshalb zur vollständigen Information dazugehören, ob ein verunfallter Radfahrer einen Helm trug hingegen nicht (da diese Information zum Verständnis des Unfallgeschehens keinen Beitrag leistet, ebenso wenig wie eine mögliche Parteizugehörigkeit oder die Schuhgröße).
Ethik vs. Informationsvielfalt
Viele ethische Regeln wollen eine Begrenzung von Information, sie wollen in bestimmten Bereichen Nicht-Information und damit gerade keine Orientierung. Bekannt ist die vom Presserat und vermutlich allen Medienethikern geforderte Zurückhaltung bei der Suizid-Berichterstattung ("insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände", so Richtlinie 8.7 des Pressekodex).
Begründet wird diese Forderung vor allem mit der Prävention von Nachahmungssuiziden. In der Folge soll die Bevölkerung möglichst uninformiert bleiben, was erfolgreichere und weniger erfolgreiche Methoden zur Lebensbeendigung sind und welche Folgen die Hinterbliebenen zu tragen haben.
Das Ergebnis ist kaum den Medien, aber gut informierten Kreisen von Rettungsdienst und Polizei zu entnehmen: viele Selbsttötungen verlaufen ganz anders, als es sich die Suizidenten vorgestellt hatten, und viel zu oft werden dabei mehr Menschen in Mitleidenschaft gezogen als es notwendig gewesen wäre.
Die journalistische Perspektive müsste hier für Aufklärung stehen, folgt stattdessen aber einem moralischen Imperativ zur grundsätzlichen Suizidvermeidung (ausführlicher in "Lebenspflicht-Journalismus").
Staats- und Privatsphäre
Auch aus anderen Gründen kann man gegen Journalismus sein. So ist die Berichterstattung über Geheimsachen "des Staates" stets eine heikle Gratwanderung. Informanten können sich in vielen Fällen strafbar machen, wenn sie entdeckt werden (entsprechend rigoros gehen gelegentlich die Staatsanwaltschaften vor).
Dass in der Corona-Pandemie einzelne Medien zugunsten einer von ihnen vertretenen Verantwortungsethik auf Journalismus verzichtet haben, ist längst aktenkundig (Beispiel Ringier, Beispiel Bild-Zeitung) und wurde für den Beginn der Pandemie mit medienethischem Verständnis quittiert.
Im Bereich von Persönlichkeitsrechten gibt es einen permanenten Widerstreit zwischen Journalismus = Orientierung gebende Information einerseits und Nicht-Thematisierung als ethische Konsequenz angesichts möglicher Folgen andererseits (ausführlich in "Individualschutz vs. Pressefreiheit").
Unterschiede in der Kriminalität: Vermischung von Messung und Bewertung
In der politischen wie ethischen Debatte um die Herkunftsnennung bei Tätern und Tatverdächtigen werden oft Messung und Bewertung von Messbefunden vermischt.
Anstatt erst einmal zu schauen, was Sache ist, dies dann zu analysieren und erst später zu bewerten, wird kommentiert, was es möglicherweise geben könnte und was es erhoffterweise nicht geben sollte.
So heißt es in dem Publizistik-Aufsatz zu Herkunftsmerkmalen in Verbrechensstatistiken:
Ohne explizite Erläuterungen könnten solche Vergleiche von Herkunftsgruppen ähnlich wie Berichte über Einzelverbrechen die nicht haltbare These transportieren, wonach Menschen aus bestimmten Ländern oder Gruppen stärker zu Kriminalität neigen.
Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.
Sollte man sich nicht erstmal die Daten genau anschauen, bevor man entscheidet, welche These unhaltbar ist? Und wenn sie dann falsifiziert werden kann, sind alle einen Schritt weiter - das geht aber nicht im Blindflug.
Natürlich wird es Unterschiede in der Kriminalität geben. Das simpelste Beispiel sind Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht - da kann man als Deutscher in Deutschland nicht auffällig werden. Auch beim Drogenschmuggel ist zu erwarten, dass mehr Menschen aus Drogen erzeugenden Ländern beteiligt sind. Solche quantitativen Unterschiede sagen natürlich nichts über das Kriminalitätsleben bestimmter Ethnien, aber etwas zu bestimmten Delikten.
Bettlägrige werden weniger Banküberfälle begehen als mobile Menschen. Und auch zwischen Frauen und Männern gibt es in den Kriminalitätsstatistiken fortwährend signifikante Unterschiede.
Aus Angst vor irgendwelchen (falschen) Bewertungen realer Daten gleich auf die Daten zu verzichten ist jedenfalls weder ein journalistischer noch ein wissenschaftlicher Ansatz. Und nicht selten kann man den Eindruck gewinnen, es stehe nicht die Sorge vor Fehlinterpretationen im Vordergrund, sondern die Angst vor tatsächlichen Ergebnissen.
(Und natürlich der Kampf um den eigenen Vorteil, insbesondere politische Gefolgschaft und entsprechend als Gegenüber Gegnerschaft.)
Warum der Begriff "Migrant" eine Vernebelung ist
Es gibt unbestreitbar statistische Unterschiede zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung etwa in Berlin, meist gemessen in Bezug auf Quartiere. Ob man auf den Anteil der Sozialhilfeempfänger schaut, auf Bildungsabschlüsse, Mietpreise oder so etwas Verwegenes wie Mädchen und Frauen im öffentlichen Raum.
Die Bewertung solch messbarer Unterschiede ist dann aber etwas ganz anderes, und dafür wird man weit mehr Daten als Migrationsbiografien benötigen.
Warum werden Döner-Läden immer von Zugewanderten betrieben? Kann niemand ohne nicht-deutsche Vorfahren mit einem Drehspieß arbeiten (denn Asiaten in Ostdeutschland können es, dort ist die Kombination aus Nudel- und Dönerladen weit verbreitet)?
Anstatt über die Gründe zu spekulieren, sollte man nach ihnen suchen, wenn es einen interessiert, aber dazu muss man eben die Herkunft von Menschen als Datum berücksichtigen. Dass dann eine Korrelation noch keine Kausalität ist, haben inzwischen doch viele begriffen.
Dabei ist auch der Begriff "Migrant" schon eine Vernebelung, die eine sachgerechte Debatte seit Jahren enorm erschwert. Es ist ein Unterschied, ob Menschen vor Krieg oder politischer Verfolgung flüchten, um in ihre Heimat zurückzukehren, sobald dies möglich ist, oder ob Menschen sich zur Auswanderung entschließen.
Es wird niemandem gerecht, jeden Menschen in Deutschland ohne deutschen Personalausweis als Zugewanderten oder Migranten zu betrachten. Aber die Debatte wird schon lange extrem verkürzt.
Von der einen Seite aus betrachtet ist jeder, der gegen mehr und schnellere Einbürgerungen ist, xenophob, von der anderen Seite aus treiben alle, die Menschen in existenzieller Not helfen wollen (oder die sich wirtschaftliche Vorteile von spezieller Zuwanderung versprechen), ein böses und verschwörerisches Spiel. Die mangelnde Differenzierung in der Medienberichterstattung und die Vernebelung von Unterschieden haben den Debatten geschadet.
Urteile und Vorurteile
Das Verschweigen von Herkunftsmerkmalen soll "Vorurteile gegenüber Minderheiten" vermeiden. Es verhindert aber de facto Urteile, also möglichst fundierte Meinungen - die ja hoffentlich weder Pressekodex noch Medienethik untersagen wollen. Gerade Nichtdifferenzierungen führen zu Vorurteilen (also unbegründete Annahmen), weil sich jeder ein paar passende Fakten herauspicken kann, anstatt mit validen Erkenntnissen arbeiten zu müssen.
Auch die Autoren des Publizistik-Aufsatzes verzichten nicht auf diskriminierende, nämlich vorverurteilende Gruppenbezeichnungen. Beispiel:
Populistische Akteur*innen wiesen in den vergangenen Jahren immer wieder lautstark auf eine angebliche Bedrohung der inneren Sicherheit durch Eingewanderte, Geflüchtete oder Angehörige von hier beheimateten Minderheiten hin.
Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.
Sicherlich gibt es "populistische Akteur:innen", aber wenn es sich dabei um eine Tatsachenbeschreibung handelt, kennte man dann doch gerne die genauen, wissenschaftlichen Standards genügenden Messkriterien.
Andernfalls wäre "populistisch" eine Meinung, die sich Rezipienten selbst bilden möchten, was aber ohne Benennung der Bewerteten unmöglich ist.
In jedem Fall dürfte nämlich falsch sein, dass jeder, der in irgendeiner Form auf "Bedrohung der inneren Sicherheit durch Eingewanderte, Geflüchtete oder Angehörige von hier beheimateten Minderheiten" hinweist, ein Populist. Genutzt wird der Populismus-Vorwurf viel mehr als politischer Kampfbegriff zum wenig demokratischen Diskussionsausschluss.
Vermutlich eher versehentlich gestolpert sind die Autoren über ihre Vorurteile bei folgender Aussage, die gleichwohl wissenschaftliche Exaktheit vermissen lässt:
"Insbesondere erwähnen zahlreiche Berichte von Medien, Polizei und Justiz, dass beteiligte Personen eine Einwanderungsbiografie aufweisen oder einer von Rassismus betroffenen Gruppe angehören (z. B. "Migrationshintergrund"; "Geflüchtete")."
Vielfalt als Lösung
Tatsächlich jedoch "erwähnen zahlreiche Berichte" nicht, "dass beteiligte Personen [...] einer von Rassismus betroffenen Gruppe angehören", sondern dass sie eben einen Migrationshintergrund haben oder mit einem Flüchtlingsstatus in Deutschland leben, was die Autoren pauschal und persönlich als "von Rassismus betroffene Gruppe" bewerten.
Vielleicht sind die Argumente Pro und Contra Herkunftsnennung irgendwann ausgetauscht. Und dann bleibt einer pluralistischen Gesellschaft ein medialer Weg der Vielfalt: es wird (weiterhin) Medien geben, die in der Kriminalitätsberichterstattung möglichst oft die Herkunft von Tätern und Verdächtigen nennen, und solche, die darauf weitestgehend verzichten.
Mit beidem kann und wird Schindluder getrieben werden: mit korrektem Wissen durch unkorrekte Verallgemeinerungen, und mit dem nebulösen Nichtwissen durch fiktive Präzisierungen. Denn so oder so angegangen, das größte Problem bleibt mangelndes Erkenntnisinteresse.
Dem wird auch mit ausgefuchst ausbalancierter Berichterstattung nicht beizukommen sein, dafür sind die Medienkonsumenten selbst verantwortlich (siehe Telepolis-Vierteiler "Hürden der Aufklärung").