Schon der Begriff "Migrant" ist eine Vernebelung

Bild: Mahesh Patel auf Pixabay

Medienethik: Moralische Imperative, die Angst vor falschen Bewertungen von Daten und Orientierung. Das Problem der Herkunftsnennung im Journalismus. (Teil 2 und Schluss)

Aus "medienethischer Sicht", so heißt es in der "Handreichung zur Reflexion für Journalist*innen und Kommunikationsverantwortliche der Sicherheitsbehörden und der Justiz", erschienen in der Fachzeitschrift Publizistik online, könne keine allgemeingültige Empfehlung ausgesprochen werden.

Teil 1: Welchen Pass hat der Täter? Herkunftsnennungen im Journalismus

Aber: Verantwortungsbewusst handele, wer reflektiere, "welche moralischen Werte durch eigene Entscheidungen tangiert sein können".

Die Offenlegung von Herkunftsinformationen könne die Menschenwürde berühren, zu der das Recht auf Freiheit von Diskriminierung gehöre, "so dass Medienschaffende, Kommunikationsverantwortliche der Behörden sowie ihre Organisationen eine zentrale ethische Verantwortung tragen.

Entsprechend sorgfältige Abwägungen sind aus medienethischer Sicht von Redaktionen, Behörden, einzelnen Journalist:innen und Kommunikationsverantwortlichen immer dann zu fordern, wenn sie eine Abweichung von dem medienethisch begründeten Zurückhaltungsgebot in Betracht ziehen".

Medienethik verlange allerdings "eine realistische Zuschreibung von Verantwortung". Für diskriminierende Schlussfolgerungen aus Herkunftsangaben seien zuallererst die Leser, Hörer und Zuschauer journalistischer Angebote verantwortlich.

Die Hauptverantwortung läge nur dann bei den Medienschaffenden [...], wenn sie explizit verkünden würden, die Gruppenzugehörigkeit sei der Grund für das geschilderte Verbrechen.

Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.

Auch Schweigen problematisch

Thematisiert wird auch das Problem, das durch "Verschweigen" entstehen könne, wenn gleichwohl andere über Tätermerkmale berichten, "nicht-professionelle Akteur:innen, beispielsweise Augenzeug:innen mit Videomaterial oder Nutzer:innen, die Kommentare unter Online-Beiträgen von Medienberichten hinterlassen."

Folge:

Falls sich Medienschaffende oder Kommunikationsverantwortliche gegen eine Erwähnung von Einwanderungsbiografien Tatbeteiligter entscheiden, können solche nicht-professionellen Akteur*innen diese Zurückhaltung konterkarieren.

Christoph Klimmt, Hans-Bernd Brosius, Hannah Schmid-Petri et. al.

Abschließend erläutern die Autoren einige Stichworte zur Abwägung (bspw. Quellenlage, Sachbezug und indirekte Folgen der Berichterstattung), die im Original nachzulesen sind.

Fehlende Differenzierung

Der Tenor des Publizistik-Beitrags entspricht sehr der aktuellen Presserats-Richtlinie: In der Regel soll die Herkunft von Tatverdächtigen nicht genannt werden, wenn sie zu einer "ethischen, religiösen oder anderen Minderheit" gehören.

Für seinen Umfang lässt er allerdings Differenzierungen vermissen, die für die weitere Debatte notwendig wären. Da ist zunächst die Tatsache, dass die beiden skizzierten Akteursgruppen Pro und Contra Herkunftsnennungen für zwei grundverschiedene Anforderungen an den Journalismus stehen, was leider auch in der Qualitätsdiskussion regelmäßig vermischt wird.

Journalistische Beiträge sollen Orientierung geben. Dabei kann zwar ein Überangebot von unwichtigen Detailinformationen lästig werden und wegen begrenzter Aufnahmekapazitäten Wichtigeres verdrängen (Stichwort: Relevanz), aber grundsätzlich wird ein Beitrag (oder eine Berichterstattungsreihe) besser, je mehr Aspekte er zu einem Thema bzw. einer Fragestellung liefert.

Das Ideal ist erreicht, wenn es keine weitere Information mehr gibt, die an der Betrachtung und damit Meinungsbildung noch etwas ändern kann – weil eben alles Notwendige schon gesagt ist. Das Alter eines Autounfallverursachers wird deshalb zur vollständigen Information dazugehören, ob ein verunfallter Radfahrer einen Helm trug hingegen nicht (da diese Information zum Verständnis des Unfallgeschehens keinen Beitrag leistet, ebenso wenig wie eine mögliche Parteizugehörigkeit oder die Schuhgröße).

Ethik vs. Informationsvielfalt

Viele ethische Regeln wollen eine Begrenzung von Information, sie wollen in bestimmten Bereichen Nicht-Information und damit gerade keine Orientierung. Bekannt ist die vom Presserat und vermutlich allen Medienethikern geforderte Zurückhaltung bei der Suizid-Berichterstattung ("insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände", so Richtlinie 8.7 des Pressekodex).

Begründet wird diese Forderung vor allem mit der Prävention von Nachahmungssuiziden. In der Folge soll die Bevölkerung möglichst uninformiert bleiben, was erfolgreichere und weniger erfolgreiche Methoden zur Lebensbeendigung sind und welche Folgen die Hinterbliebenen zu tragen haben.

Das Ergebnis ist kaum den Medien, aber gut informierten Kreisen von Rettungsdienst und Polizei zu entnehmen: viele Selbsttötungen verlaufen ganz anders, als es sich die Suizidenten vorgestellt hatten, und viel zu oft werden dabei mehr Menschen in Mitleidenschaft gezogen als es notwendig gewesen wäre.

Die journalistische Perspektive müsste hier für Aufklärung stehen, folgt stattdessen aber einem moralischen Imperativ zur grundsätzlichen Suizidvermeidung (ausführlicher in "Lebenspflicht-Journalismus").

Staats- und Privatsphäre

Auch aus anderen Gründen kann man gegen Journalismus sein. So ist die Berichterstattung über Geheimsachen "des Staates" stets eine heikle Gratwanderung. Informanten können sich in vielen Fällen strafbar machen, wenn sie entdeckt werden (entsprechend rigoros gehen gelegentlich die Staatsanwaltschaften vor).

Dass in der Corona-Pandemie einzelne Medien zugunsten einer von ihnen vertretenen Verantwortungsethik auf Journalismus verzichtet haben, ist längst aktenkundig (Beispiel Ringier, Beispiel Bild-Zeitung) und wurde für den Beginn der Pandemie mit medienethischem Verständnis quittiert.

Im Bereich von Persönlichkeitsrechten gibt es einen permanenten Widerstreit zwischen Journalismus = Orientierung gebende Information einerseits und Nicht-Thematisierung als ethische Konsequenz angesichts möglicher Folgen andererseits (ausführlich in "Individualschutz vs. Pressefreiheit").