"Schon der Besitz von Atomwaffen ist unmoralisch"
Warum Kernwaffen ohne Wenn und Aber abgeschafft gehören. Ein Kommentar zwischen zwei Jahrestagen.
"Schon der Besitz von Atomwaffen ist unmoralisch", sagte Papst Franziskus bei seinem Besuch in Hiroshima 2019 an die Adresse der neun Staaten, die Atomwaffen besitzen und mit deren Einsatz drohen – beziehungsweise sie in "erhöhte Alarmbereitschaft versetzen", wie Russlands Präsident Wladimir Putin zu Beginn des Ukraine-Krieges, der nun seit Monaten zeigt, dass atomare Abschreckung Kriege gerade nicht verhindert.
Vor 77 Jahren warfen US-Soldaten erstmals in der Menschheitsgeschichte Atombomben auf bewohntes Gebiet ab. Ihr Ziel am 6. August 1945, morgens um 8.15 Uhr, war die südjapanische Stadt Hiroshima. Nur drei Tage später fiel die zweite Atombombe auf Nagasaki. Dadurch starben in Hiroshima rund 70.000 Menschen an diesem Tag – bis Ende 1945 waren die Zahl der Toten auf rund 140.000 gestiegen. In Nagasaki waren es rund 73.000.
Die US-Regierung rechtfertigt ihren brutalen Einsatz bis heute mit dem Argument, dass nur durch diese beiden Atombomben der Zweite Weltkrieg im Fernen Osten rasch beendet werden konnte. Nicht nur japanische, auch US-Historiker bestreiten diese These und weisen darauf hin, dass die japanische Regierung schon vorher Friedenssignale gesendet und Zeichen von "Kriegsmüdigkeit"gezeigt habe.
Bis zum Jahr 2022 sind jedoch noch einmal mehr als doppelt so viele Menschen an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung gestorben – insgesamt mehr als 400.000. Und das Sterben geht bis heute weiter – noch 77 Jahre nach den Atombomben.
Wie intelligent ist Atombombenpolitik?
Noch nie hat eine Maus eine Mausefalle gebaut, aber Menschen bauen Atombomben. Die Atombombe ist die größte und gefährlichste Missgeburt unseres materialistischen Zeitalters.
In den letzten Jahren hatten mich die Bürgermeister von Hiroshima und Nagasaki zu Vorträgen eingeladen. Mein Thema hieß "Vom Atomzeitalter ins Solarzeitalter". Wichtigere Orte zu diesem Thema gibt es wohl nicht.
Wer in Hiroshima und Nagasaki mit Strahlungsopfern spricht oder die eindrucksvollen Gedenkstätten besucht, dem öffnet sich das Tor zur Hölle auf Erden. Im August 1945 geschah ein Massenmord auf eine Weise, die sich die Welt bis dahin nicht vorstellen konnte. Innerhalb von Sekunden haben sich Zehntausende von Menschen in Nichts aufgelöst, waren ein Häufchen Asche oder für den Rest ihres Lebens verstrahlt und schwer behindert.
Am meisten erschüttert hat mich jedoch eine Zahl, die mir der Bürgermeister von Hiroshima nannte: Jedes Jahr sterben in Japan heute noch mehr als 3.000 Menschen an den Folgen atomarer Verstrahlung aus dem Jahr 1945. Kurz vor meinem Vortrag in Nagasaki schob mir der Bürgermeister noch einen handgeschriebenem Zettel zu, auf den er die aktuelle Zahl der in seiner Stadt bisher durch atomare Verstrahlung getöteten Menschen geschrieben hatte: 140.144!
77 Jahre danach liegen Hiroshima und Nagasaki nicht hinter uns, sondern noch immer vor uns. Es wird weiter gestorben. Wir wissen durch die jahrelangen Diskussionen um die Atombombe für Nordkorea und den Iran um den engen Zusammenhang zwischen der so genannten friedlichen Nutzung der Atomkraft und dem Bau von Atombomben.
Sicher ist nur das Restrisiko
In AKWs wird auch der Stoff für die Bombe produziert. Wo es keine Atomkraftwerke gibt es keine Atombomben. Die weltweit vorgekommenen Störfälle in vielen Atomanlagen müssten auch die größten Atomfreunde nachdenklich machen.
Die aktuellen Ereignisse im Ukraine-Krieg zeigen zudem, dass sich die Risiken der "zivilen Nutzung" von Atomkraft dramatisch verschärfen, wenn es in dem Gebiet zu Kampfhandlungen kommt. Das Land wird dadurch verwundbarer, aber die Strahlung macht an den Landesgrenzen nicht Halt. Nach Angaben aus Kiew haben russische Streitkräfte am Freitag eine Hochspannungsleitung des AKWs Saporischschja in der Südukraine beschädigt. Daraufhin seien Notfallgeneratoren an einem Triebwerk eingeschaltet und die betroffene Einheit vom Netz genommen worden, hieß es am Wochenende.
Solange auf der Welt mehr als 400 Atomkraftwerke laufen, werden skrupellose Machtpolitiker weiterhin versuchen, Atombomben zu bauen. 400 Kernkraftwerke sind 400 mögliche Atomunfälle. Es gibt kein einziges AKW auf der Welt, das zu 100 Prozent sicher ist. Sicher ist nur das atomare Restrisiko.
Wir müssen zudem damit rechnen, dass Atombomben eines Tages auch in die Hände von Terroristen gelangen, wenn wir das Atomzeitalter nicht hinter uns lassen. Das aber heißt: Möglichst rasch alle AKWs schließen und Strom aus erneuerbaren Energiequellen gewinnen – aus Sonne, Wind, Bioenergie, Erdwärme, Wasserkraft und Meeresenergie. Bei entsprechendem politischem Willen ist die solare Energiewende in 15 Jahren zu 100 Prozent möglich.
Die Oberbürgermeister von Hiroshima und Nagasaki haben sich schon 1982 geschworen, dass der atomare Massenmord in ihren Städten von der Menschheit niemals vergessen oder verdrängt werden darf und gründeten die weltweite Organisation "Bürgermeister für den Frieden", der sich inzwischen mehr als 8000 Bürgermeister aus 164 Ländern angeschlossen haben – darunter auch die Bürgermeister von über 900 deutschen Städten und Gemeinden, zum Beispiel Berlin, München, Hannover, Köln und Frankfurt/Main.
Das Ziel der "Bürgermeister für den Frieden", die inzwischen mehr als 300 Millionen Menschen vertreten: Eine atomwaffenfreie Welt!
"Es gibt", sagt mir der Bürgermeister von Nagasaki zum Abschied, "nicht die geringste Rechtfertigung für die atomare Geiselnahme von Städten und Dörfern." Mir geht dabei die Verpflichtung durch den Kopf, dass wir dieses Engagement für eine atomwaffenfreie Welt auch unseren Kindern und Enkeln schuldig sind. Die heute weltweit vorhandenen Atomwaffen haben eine Zerstörungskraft von rund 900.000 Hiroshima-Bomben.
Atomwaffen sind Terrorwaffen
Es ist wohl die größte und gefährlichste Illusion der Menschheit, dass wir mit Atomwaffen auf Dauer Frieden sichern können.
2007 starb der Bomber-Pilot von Hiroshima, der US-Soldat Paul Tibbets. Noch kurz vor seinem Tod sagte er: "Ja, ich würde es wieder tun. Ich hatte deshalb keine schlaflose Nacht." Bis heute hat sich kein US-Präsident in Japan für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und für den Massenmord entschuldigt.
Vor kurzem hatte mich der Bürgermeister von Fukushima zu einem Vortrag vor 400 japanischen Bürgermeistern eingeladen. Mein Thema hieß – wie zuvor in Hiroshima und Nagasaki – "Vom Atomzeitalter ins Solarzeitalter". Dabei fragte ich den Fukushima-Bürgermeister, der soeben vom havarierten AKW gekommen war, was passieren würde, wenn er das Reaktorinnere betreten würde. Seine Antwort: "Nach Sekunden wäre ich Asche."
Kriege sind ein Verbrechen an der Menschheit
Ein Atomkrieg wäre wohl der letzte Krieg, denn danach gäbe es wahrscheinlich keine Menschen mehr, die noch einen Krieg führen könnten. Der Mahnruf des bisher missachteten Gewissens heißt: Vergesst nicht die Lehren der vier großen Atomkatastrophen in Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl und Fukushima.
Die japanischen Bürgermeister sagten mir, dass sie alleine eine atomwaffenfreie Welt und eine Welt ohne AKWs nicht schaffen. Dazu brauchen sie die Unterstützung vieler Kollegen und Kolleginnen in der ganzen Welt. Immerhin haben 2019 123 UNO-Staaten die Abschaffung aller Atomwaffen gefordert. Aber alle neun Atombomben-Regierungen haben dagegen gestimmt.
Es müssen sich noch viel mehr deutsche Bürgermeister dafür einsetzen, bis auch die Bundesregierung dem Atomwaffenverbots-Vertrag beitritt. Damit könnte Deutschland zeigen, dass es aus seiner Geschichte nach 1945 tatsächlich etwas gelernt hat.
Seit 2000 Jahren gilt der altrömische Grundsatz "Wer Frieden will, muss den Krieg vorbereiten." Das Ergebnis dieser Politik: 2000 Jahre lang Kriege, Massenmord und unendliches Leid. Aufgrund dieser Erfahrungen müssen wir endlich diese Philosophie entwickeln: "Wer Frieden will, muss den Frieden vorbereiten." Auch ich weiß, dass in den Zeiten der Putin-Kriege Pazifismus ein langfristiger Traum ist, aber er bleibt ein notwendiger Traum.
Mit einem Zehntel der weltweiten Militärausgaben könnten wir dafür sorgen, dass kein Kind mehr verhungern muss. Und mit einem weiteren Zehntel könnten wir dafür sorgen, dass alle Kinder zur Schule können. Wären diese nicht lohnendere Ziele als ein neues Wettrüsten zu beginnen, wie es gerade geschieht? Wann endlich lernen wir, dass nicht Hass und Wettrüsten der Sinn unseres Hierseins ist, sondern Liebe und Frieden?
Die Lehre von Hiroshima und Nagasaki: Wir müssen Frieden und Sicherheit neu denken. "Die Bergpredigt Jesu ist im Atomzeitalter das Überlebensprogramm der Menschheit" – diesen schwergewichtigen Satz sagte mir Michail Gorbatschow, der ehemalige Kommunistenchef – einmal in Moskau. Aus den Worten Jesu lässt sich auch ein aktueller Vorschlag zur Energiepolitik ableiten: "Die Sonne des Vaters scheint für alle".
Franz Alt 2022 | www.sonnenseite.com