Schon eine Stunde Fernsehen täglich fördert die Aggressivität
Eine amerikanische Langzeitstudie über die Verbindung von Fernsehkonsum und Gewalt eröffnet interessante Einsichten, aber bietet weiterhin keine endgültige Aufklärung über die Folgen der Television
Nach der angeblich ersten Langzeitstudie über die Auswirkungen des Fernsehkonsums auf aggressives Verhalten neigen Heranwachsende, die täglich mehr als eine Stunde Fernsehen, eher zur Gewalt als die stärker TV-abstinenten. Die Gründe für die Verbindung zwischen längerem Fernsehkonsum und zunehmender Aggressivität bleiben allerdings noch immer spekulativ. Und möglicherweise sind in Zeiten wie dieser friedliche Menschen gar nicht mehr das Non-plus-Ultra, weswegen durchaus mehr Fernsehen angesagt sein könnte.
Für die in der aktuellen Ausgabe von Science veröffentlichten Studie "Television Viewing and Aggressive Behavior During Adolescence and Adulthood" von Wissenschaftlern der Columbia University und des New York State Psychiatric Institute wurden über einem Zeitraum von 17 Jahren 707 meist weiße (91%) und katholische (54%) Kinder im Alter zwischen einem und zehn Jahren aus New York mehrmals (1975, 1983, 1985-86 und 1991-93) auf ihrem Weg von der Kindheit ins Erwachsenenalter befragt. Zudem wurden ihre Mütter interviewt. Die Kinder teilte man nach Dauer ihres Fernsehkonsums in drei Gruppen: weniger als eine Stunde, zwischen einer und drei Stunden sowie mehr als drei Stunden tägliches Glotzen.
Nach Jeffrey Johnson, dem Leiter der Wissenschaftlergruppe, gibt es in einer Stunde Fernsehen durchschnittlich drei bis fünf Szenen mit Gewalt während der abendlichen Hauptsendezeit, zu der Zeit, in der Kinder und Jugendliche vor der Kiste sitzen, würden sie aber 20 bis 25 solcher Szenen stündlich sehen. Der Fernsehkonsum würde nach diesen Durchschnittswerten daher in etwa der Häufigkeit von Gewaltdarstellungen entsprechen, also nahe legen, dass nicht das Medium, sondern seine Inhalte die Gewalt seien..
Hinweise auf aggressives Verhalten ergaben sich aus den Interviews, es wurden dazu aber auch andere Quellen wie Informationen über Festnahmen oder Strafen herangezogen. Da die Wissenschaftler an den Langzeitwirkungen interessiert waren, wurden diese Belege jeweils um das Alter von 16, 22 oder 30 Jahre gruppiert. So stellte sich heraus, dass Aggressivität nicht nur gefördert wird, wenn Kinder in frühem Alter medialen Gewaltdarstellungen ausgesetzt werden, sondern dass dies auch noch für ein höheres Alter gilt. Allerdings scheint es hier auch einen wichtigen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen zu geben. Während die Verbindung zwischen der Höhe des Fernsehkonsums und der Gewaltneigung bei Mädchen im frühen Erwachsenenalter am stärksten zu sein scheint, ist dies bei den Jungen in der Pubertät. Neigen Mädchen eher zu Raub und Gewaltandrohungen, so Jungen zu Beleidigungen und Raufereien, die auch zu Verletzungen führen. Ob das allerdings aktuell noch für die nachwachsende Generation gültig ist, darf bezweifelt werden, denn die letzte Erhebung bei den Mädchen in der Pubertät stammt aus dem Jahr 1983 - und da hat sich alleine schon im Fernsehprogramm viel verändert, geschweige denn in der Kultur.
Fernsehen + einige soziale Faktoren = mehr Gewalt
Um zumindest die Frage ein wenig zu klären, ob nun Fernsehen zu Aggression führt oder aggressive Menschen länger fernsehen, versuchten die Wissenschaftler herauszufinden, ob die Kinder, bei denen größere Aggressivität zu beobachten war, später auch einen höheren Fernsehkonsum hatten. Das scheint nicht notwendig der Fall zu sein. Auch andere Gründe, die Aggressivität und höheren Fernsehkonsum fördern können wie Vernachlässigung, geringes Einkommen der Familie, geringe Bildung der Eltern (keinen High School Abschluss), eine riskante Wohnumgebung oder psychische Störungen in der Kindheit, hätten der festgestellten Verbindung zwischen der Länge des täglichen Fernsehkonsums und der damit ansteigenden Aggressivität nicht widersprochen. Gleichwohl waren auch diese Faktoren signifikant mit dem Fernsehkonsum im Alter von 14 Jahren und dem aggressiven Verhalten zwischen 16 und 22 Jahren verknüpft. Um diese Faktoren mit zu berücksichtigen, wurde der Aggressivitätsgrad beispielsweise derjenigen, die vernachlässigt wurden, mit der Gewaltneigung derjenigen verglichen, bei denen dies nicht der Fall war. War der Aggressivitätsgrad unterschiedlich, so versuchten die Wissenschaftler statistisch herauszubekommen, welcher Anteil auf den Fernsehkonsum und welcher auf den jeweiligen Faktor zurückgeführt werden kann. Hier werden Kritiker vermutlich vornehmlich ihren Angriffspunkt finden.
Nachdem die sechs oben genannten Faktoren berücksichtigt wurden, ergaben sich bei der Auswertung der Studie noch immer deutliche Unterschiede. So haben sich nur 5,7 Prozent der Jugendlichen, deren Fernsehkonsum weniger als eine Stunde täglich betrug, später gewalttätig gegenüber anderen verhalten, während dies bei 22,5 Prozent derjenigen, die täglich zwischen einer und drei Stunden vor der Glotze saßen, und bei 28,8 Prozent von denen Fall war, die täglich mehr als drei Stunden vor dem Fernseher verbrachten. Das trifft auch noch für die Verbindung zwischen Fernsehkonsum und Aggressivität bei 22-Jährigen zu, wenn auch in weit geringerem Maße. Überdies sei Aggressivität nur eine von unterschiedlichen negativen Folgen übermäßigen Fernsehens. Ohne groß die Fantasie strapazieren zu müssen, ist natürlich eine andere Folge die Verfettung.
Huhn und Ei oder Statistik und Spekulation
Nach den Ergebnissen liegt der Rat von Johnson für "verantwortungsvolle" Eltern, der die Fernsehanstalten nicht sehr erfreuen dürfte, auf der Hand. Vor allem pubertierende Jugendliche (um die 14 Jahre) sollten möglichst weniger als eine Stunde vor dem Fernseher sitzen, da hier das größte Risiko zu beobachten ist. Das aber ist just die Zeit, in der selbst manchen verantwortungsvollen Eltern die Zügel für ihre Sprösslinge reißen, die sie in der Kindheit noch fest im Griff hatten. Unbeantwortet aber bleibt neben den 6 Faktoren, die berücksichtigt wurden, woher bei manchen Jugendlichen die wachsende Faszination an den Fernsehbildern oder die Flucht in die mediale Montage der Attraktionen rührt.
Johnson glaubt wie viele andere, dass die Beobachtung von Gewalt im Fernsehen zur Nachahmung führt, vornehmlich wenn die Gewalt in den Filmen noch belohnt wird. Ist man Gewalt real oder medial häufig ausgesetzt, so führt das nach ihm zu einer Desensibilisierung. Möglicherweise ist, so eine weitere Vermutung, der Preis des ausgedehnten Fernsehkonsums auch der Verlust sozialen Verhaltens, wie man sich ohne Gewalt aus kritischen Situationen herausarbeiten kann. Für das Erlernen wäre einfach weniger Zeit vorhanden. Aber vielleicht kommt die Aggression nicht aus den gesehenen Inhalten, sondern direkt aus der Aussetzung ans Medium, das gleichzeitig in Spannung versetzt und aufs Äußerte langweilt. Auch wenn man die Ergebnisse der Studie akzeptiert, bleibt hinreichend Platz für die Interpretation der Zusammenhänge. Unbeantwortet bleibt schließlich auch, ob die (interaktive) Computer- und Internetgeneration anders als die Fernsehgeneration von Bush junior und Co. ist oder durch tägliche Praktizierung von Brutalgewalt noch stärker der simplizistischen Lösung anhängt.
Aber vielleicht sieht man das alles in Kriegszeiten, in denen Gewalt eine wichtige Rolle spielt, auch ganz anders. Die Attraktivität einer gewalttätigen oder auch militärischen Lösung von Konflikten ist allerdings schon ein wenig älter das Fernsehen, möglicherweise aber trägt es dazu bei, diesen Lösungsweg, der eben auch gut medial und Hollywood-mäßig darstellbar ist, zu verfestigen. Und vielleicht sind es ja auch die realen Vorbilder, die vom Fernsehen und den anderen Medien nur bekannt gemacht werden, die blindwütige Aktionen wie die des Amokschützen Richard Durn in Nanterres provozieren. Zumindest wären Medien nicht zwingend für die Vorstellung notwendig, den gewünschten eigenen Tod mit dem Tod möglichst vieler anderer Menschen zu verbinden. So brennt man sich durch ein surreales Finale in das Gedächtnis der Nachwelt ein. Das kann auch, wie die palästinensischen Selbstmordattentäter zeigen, zu einer Methode werden, die sich dauerhaft wie am Fließband praktizieren lässt. Das Leben - das eigene und das der Anderen - darf bloß nichts mehr wert sein. Dazu tragen die Medien sicher ein Stück bei, noch viel mehr aber vermutlich die Wirklichkeit auf dieser Erde.