Schule der Nation

Seite 2: Dreigliedrigkeit als demokratisches "Rüttelsieb"

Die deutsche Gründlichkeit im Schulwesen hat sich in vergangenen Zeiten dennoch die kapitalistische Berufshierarchie zu einem ganz eigenen Anliegen gemacht. Die vordemokratische Bildungspolitik war bemüht, den zu einer Pyramide verklärten Aufbau der Gesellschaft innerschulisch vorwegzunehmen.

Die breite Basis der "Volksschule" sollte die Kinder der ebenso breiten Schicht der Arbeiter und Bauern auf den Lebensweg ihrer gesellschaftlichen Dienerschaft vorbereiten und festlegen. Genauso, wie eine "Oberschule" mit griechischem Namen den Nachwuchs der herrschenden Elite für seine kommenden Aufgaben in Kommerz, Wissenschaft und Staat zu befähigen hatte.

Dazwischen sollte eine "Mittelschule" einen Stand von Angestellten für Dienstleistungen heranziehen, die Fertigkeiten in Maschinenschreiben, doppelter Buchführung oder einer Fremdsprache verlangten. In der Wende zum 20. Jahrhundert verordnete der Staat der Sozialisierung seines bildungsfernsten Nachwuchses noch eine "Hilfsschule". Die heutige Schulpyramide hat sich demgegenüber im Sekundarbereich so ziemlich umgekehrt.

Einer "Basis" von zehn Prozent Hauptschülern und einer Zwischenschicht von Realschülern steht jetzt ein Überbau von bis zu 50 Prozent Gymnasiasten gegenüber – unter anderem deshalb, weil die Mehrzahl der Bundesländer den Elternwillen bei der Schulwahl nach der Grundschule freigegeben hat.

In dieser Form besteht die tradierte Dreigliedrigkeit mit eigenen Abschlussprofilen aber fort, Bayern und die CDU ziehen dafür gelegentlich in den Wahlkampf, und bei der Eltern- und Lehrerschaft der "höheren Schulen" sorgen sich Lobbys um ein Abstandhalten zu den über die Hauptschule hinausgedrungenen "Restschulen", die doch nur ein konsequentes Resultat des gegliederten Schulwesens darstellen.

Auch im überschaubaren Segment der deutschen Auslandsschulen hat sich ein wenig Tradition erhalten. Sie gliedern sich fast alle in eine offensichtlich handhabbare Abfolge von Grundschule und anschließendem Gymnasium, gestehen ihrem Kundenkreis also schon in der Organisationsform zu, eine "Limited Edition" für Gutverdiener und Bessergestellte zu sein – eine kleine Anomalie im heutigen Schulwesen, die der zuständige Bund-Länder-Ausschuss verantworten kann.

Vorsortieren für die bestehende Hierarchie muss sein

Denn das Prinzip der demokratischen Schule der Nation hat mit der Zuordnung von beruflichen Laufbahnen gemäß Geburt, Stand oder Vermögen tatsächlich Schluss gemacht. Für die moderne und gerechtere Art einer schulischen "Allokationsfunktion" hat die pädagogische Wissenschaft folgendes Bild gefunden: "Bildlich gesprochen ist die Schule einem großen Rüttelsieb vergleichbar, das zwischen den Generationen angeordnet ist und den Zugang zu beruflichen Positionen, sozialem Prestige und materiellem Erfolg steuert.

Steuerungsmittel sind in erster Linie die Zensuren und Abschlüsse, die jeweils bestimmten Öffnungen des Siebes zugeordnet sind." (Neues schulpädagogisches Wörterbuch, München 1993) Die bürgerliche Pädagogik – wie die zugehörige Gesellschaft überhaupt, die das mit früheren Klassengesellschaften teilt, – hat also kein Problem damit, dass es in Sachen Lebensweg und Wohlergehen ein klares Oben und Unten gibt.

Diese Hierarchie muss offenbar schon deshalb sein, weil sie existiert. Der Auftrag, den die Bildungspolitik erteilt und dem sich die Schulpädagogik selbstbewusst stellt, besteht folglich darin, die nachwachsenden Generationen im Hinblick auf die existente Klassenstruktur einer gewissen Vorsortierung zu unterziehen. Auf welcher Ebene des "Rüttelsiebs" man dabei landet oder sich hält, soll allerdings nicht vorherbestimmt sein, sondern sich als das Resultat eigener Lernleistungen einstellen.

Organisierte Lernkonkurrenz

Es ist dies die demokratische Weise der schulischen Qualifizierung in einer und für eine Konkurrenzgesellschaft. Dass diese Konkurrenz bezüglich Laufbahn und Leben nichts verbürgt und vieles unsicher macht, ist allgemeine Erfahrung. Auch die "Rüttel"-Pädagogik, die behauptet, sie würde die Zugänge zu gesellschaftlichen Positionen und Erfolgen "steuern", relativiert dies gleich im nächsten Satz: "Freilich spielen nicht zuletzt auch Glück und Zufall eine große Rolle."

Was den Lebenswegen in die Quere kommt und kommen kann, ist zwar mehr in Notwendigkeiten als im Lotto-Prinzip begründet, nämlich in denen der Marktwirtschaft und ihrer staatlichen Betreuung. Der Verweis auf die "große Rolle von Zufall und Glück" drückt auf seine Weise aber aus, dass die Heranwachsenden in der Vorbereitung auf die Wettbewerbsgesellschaft mit ihren schulischen Qualifikationen vor allem Chancen erwerben.

Deren Eröffnung und Gleichheit will die bürgerlich-demokratische Schule der Nation in einer eigentümlichen Lernkonkurrenz organisieren, die jedem aus seiner Jugend bekannt ist und die gemeinhin als der Inbegriff des Erwerbs von Wissen gilt. Die Zeitschrift Gegenstandpunkt beurteilt dies so:

Wissen und Können, die der Jugend nahegebracht werden, sind zugleich der Prüfstein dafür, wie sich der Lernende bei der Aneignung bewährt. Zu diesem Zweck werden die Wissensinhalte jeweils als das Quantum Lernstoff festgelegt, das in entsprechend vorgegebenen Zeitintervallen zu unterrichten und abzuprüfen ist. (…)

So werden die Schüler auf ihre Lernfortschritte hin gemustert, über die einerseits ein sachliches Urteil zu fällen ist. Dieses Urteil bildet andererseits die Grundlage dafür, es in eine behördlich festgelegte Form der Notengebung zu übersetzen, (…) in der die bewerteten Wissensinhalte selbst verschwinden. (…)

Die Volksbildung stellt einen Katalog der Allgemeinbildung auf, um diejenigen zu ermitteln, die einen weiterreichenden Durchgang durch diesen verdienen. (…) Wo die Bemühungen der Schule nicht gefruchtet haben, kommt sie zu dem Urteil, dass die Wissenslücken, die sie produziert, den Lernenden als Defizit ihrer Leistungstauglichkeit anzulasten sind, denen man dann weitere Bildung "erspart".


Gegenstandpunkt 3-20: Schule der Konkurrenz

Bereits Zehnjährige werden am Ende ihrer deutschen Grundschulzeit mit der einschneidenden Erfahrung konfrontiert, dass der hergestellte und zugelassene Unterschied im Grundwissen gerade recht kommt, um sie vom Bildungsgang der Mitschüler und Freunde abzukoppeln.

Das zur Perfektion entwickelte Verfahren der Lernkonkurrenz hat neben ein paar schulischen Implikationen eine gesellschaftliche Leistung, die ebenfalls jedem, der in der Schule war, eigentlich bekannt sind – obwohl sich kaum jemand ein vernünftiges Urteil darüber bilden mag. Davon handelt der zweite und letzte Teil dieses Aufsatzes.

Dieser Artikel schließt an Überlegungen an und ergänzt sie ein wenig, die im Aufsatz "Schule der Konkurrenz" der Zeitschrift Gegenstandpunkt 3-20 in ausführlicher und systematischer Form angestellt wurden.

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