Schwachkopf-Debatte und Strafrecht: Fatal missglückte Maßstäbe für Politikerbeleidigung
Die Verantwortlichen für die Neuversion des § 188 StGB handelten unklug. Hintergründe zur Strafbarkeit von Invektiven gegen Politiker. Essay.
Man stelle sich vor, Donald Trump würde nach seinem Amtsantritt Tausende Menschen vor Gericht stellen lassen, die ihn im Netz doof, debil, ekelhaft, narzisstisch, verrückt oder Ähnliches genannt haben, und diese Leute würden dann zu Haftstrafen verurteilt.
Die Empörung diesseits des Atlantiks und jenseits des Orban-Putin-Dunstkreises wäre groß. Und zwar auch unter jenen in Deutschland, die mit ihrer eigenen Stimme vor wenigen Jahren Änderungen der Paragrafen 185, 188 und 194 des Strafgesetzbuchs beschlossen, die genau das legal möglich machen.
In den USA gibt es zum Glück kein Gesetz gegen Politikerbeleidigung. Sehr wohl aber in der Türkei.
Der türkische Paragraf gegen Beleidigung: Der Fall Erdoğan/Böhmermann
Einen mit dem jetzigen deutschen § 188 StGB vergleichbaren türkischen Paragrafen gegen Beleidigung staatlicher Funktionäre hatte Recep Tayyip Erdoğan seit etwa 2015 zunehmend benutzt, um Personen strafrechtlich zu verfolgen, die sich in den sozialen Medien despektierlich oder satirisch über ihn geäußert hatten.
Er beschrieb sein Vorgehen als Verteidigung des demokratischen Staates und seiner Vertreter gegen Terroristensympathisanten, Desinformation und Sittenverfall. Von den Qualitätsmedien und der Politik in Deutschland hingegen wurde Erdoğans Crackdown gegen Lästerer als diktatorisches Vorgehen gedeutet.
Die deutsche politische und mediale Öffentlichkeit war folglich auch einhellig der Meinung, dass Erdoğan es auszuhalten habe, sich 2016 im deutschen Fernsehen als "Erdowahn" und kurz darauf als "sackdoofer" Ficker von Ziegen und Belecker von Schafgenitalien beschreiben zu lassen, dessen "Schrumpelklöten" schlimmer röchen als ein Schweinefurz.
Erdoğan wurde in diesem Kontext von freiheitlich gesonnenen deutschen Politikern und Journalisten belehrt, dass Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit dies erlaubten und in unserer westlichen freiheitlichen Lebensweise krassestes Politikerbashing gang und gäbe sei.
Eine regelrechte Empörungswelle ging durch die Medien, weil Erdoğan so frech gewesen war zu klagen und das deutsche Strafrecht ihm zupass kam, da es einen Paragrafen gegen Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten enthielt.
Die zuständige Mainzer Staatsanwaltschaft entschied alsbald im Konsens mit der öffentlichen Meinung, die strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Urheber der Beleidigungen, Jan Böhmermann, einzustellen.
Alles inklusive "Schrumpelklöten" und "Ziegenficker" sei weder nach § 185 StGB (Beleidigung allgemein) oder § 103 StGB (Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten) strafbar, da lediglich eine Überzeichnung menschlicher Schwächen, jedoch keine beleidigende Herabwürdigung einer Person.
Richtig ist, dass das Schmähgedicht bei Böhmermann aufgrund des ihm gegebenen Rahmens als uneigentliche Sprache deutbar war. Die Tatsache, dass Böhmermann für sein angebliches Lehrbeispiel der Schmähkritik aber ausgerechnet Erdoğan als Ziel selbiger erkor und er die Abfolge vulgärer ethnisierter Beleidigungen, nicht aber deren relativierende Rahmung, türkisch untertiteln ließ, lassen allerdings vermuten, dass hier eben doch die schrankenlose Beleidigung und Provokation Erdoğans die eigentliche Absicht war.
Majestätsbeleidigung
Im zivilrechtlichen Verfahren wegen Persönlichkeitsverletzung unterlag Böhmermann denn auch teilweise. Ihm wurde die weitere Verbreitung von Teilen des "Gedichts" untersagt, was neben Böhmermann selbst auch das Grimme-Institut, von Berufs wegen zuständig für kulturell hochwertige Medieninhalte, mit lautem Protest zur Kenntnis nahm.
Nach der Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wurde Paragraf 103 StGB zur Beleidigung von Vertretern ausländischer Staaten ganz abgeschafft.
Die Idee, es gebe so etwas wie Majestätsbeleidigung und Regierende müssten mit Straftatbeständen vor Beleidigung geschützt werden, entstamme dem autoritären, obrigkeitsstaatlichen Denken der Kaiserzeit, das wir längst hinter uns gelassen hätten, so hieß es damals.
Der damalige Innenminister Heiko Maas verkündete in der selten einmütigen Bundestagsaussprache zur Gesetzesänderung im April 2017, es gehe hierbei um die Gleichheit vor dem Gesetz. (D.h. Politiker dürften nicht wie früher Majestäten besser gestellt werden als gewöhnliche Bürger.)
Vor allem aber gehe es um die Meinungs- und Pressefreiheit. Maas rief Erdoğan dazu auf, die Meinungs- und Pressefreiheit zu achten und nicht weiter Kritik an sich als Beleidigung zu verfolgen. Anwesende aller Fraktionen applaudierten.
Redefreiheits-Zeitenwende und bayrischer Autoritarismus
Nur wenige Jahre später vollzogen die deutsche Politik und die öffentliche Meinung eine Wende um hundertachtzig Grad, sowohl bei der Gesetzeslage als auch bei deren Interpretation und Praxis.
Dem zuvor selten angewandten Paragrafen § 188 StGB, der das Verbreiten nachweislicher verleumderischer Falschinformationen über Politiker unter Strafe stellte, fügte man die Beleidigung von im politischen Leben stehenden Personen als mit der Verleumdung gleichwertige Straftat hinzu.
Zugleich ermöglichte man durch eine Änderung des § 194 StGB, dass gegen Politiker gerichtete Beleidigungen aufgrund öffentlichen Interesses von Amts wegen strafrechtlich verfolgt werden können, auch wenn der Betroffene selbst nicht klagt, so wie auch im Fall "Schwachkopf Professional" geschehen (den Strafbefehl von Habeck holte man erst im Verlauf ein).
Das heißt, die Staatsanwaltschaften werden solche "Taten", wenn sie ihnen zur Kenntnis gelangen, beispielsweise durch Meldungen aus den sozialen Netzwerken, nicht mehr als irrelevant unbearbeitet lassen.
Die Privatsphäre extrem verletzende Hausdurchsuchungen, bei denen ja sämtliche digitalen Geräte zum Auslesen mitgenommen werden, sind bei Online-Beleidigungen wohl eher die Regel als die Ausnahme. So jedenfalls klingt die Einleitung eines Interviews mit einem auf "Cybercrime" spezialisierten Staatsanwalt aus NRW unter der Überschrift "Hetze im Netz ist strafbar":
Ist der Fall strafrechtlich relevant, übernimmt das Landeskriminalamt NRW die Identifizierung der Beschuldigten. Verläuft diese erfolgreich, führen die örtlichen Polizeidienststellen Vernehmungen und Durchsuchungsbeschlüsse durch.
Hetze im Netz ist strafbar, polizei-dein-partner.de
Die Höchststrafe für Beleidigung von Politikern in Deutschland steht nun bei drei Jahren Gefängnis, nur ein Jahr weniger als in der Türkei. Nebenbei hob man auch das Strafmaß für gewöhnliche Beleidigung nach § 185 auf zwei Jahre an.
Die Zahl der von Politikern strafrechtlich angezeigten Beleidigungen schoss seitdem in Höhen, die jenen in der Türkei in den Jahren gleichen, als Erdoğan seine autoritäre Wende begann.
Viel enger als bisher wird die Interpretation dessen gefasst, was das Maß der grundgesetzlich erlaubten Kritik an einem Politiker überschreitet und unzulässig dessen Ehre tangiert. Jedenfalls, wenn keine anerkannten Hofnarren die Urheber sind, sondern unbekannte Bürger ohne Lobby und Resonanz.
"Bitch" verwendete die heute-show über Trump, den sie bildlich als die Hure Putins darstellte und der jüngst dort auch als "Orang Wutan" (Minute 2:08) abgebildet wurde.
Carolin Kebekus im WDR verwendete "sexy Bitch der AfD" über Frauke Petry, die ebenfalls dort auch zur "Pussy des Monats" gekürt wurde. Doch dem Amtsgericht Augsburg reichte "Bitch" über Marie-Agnes Strack-Zimmermann aus der Feder eines Bürgers für eine Verurteilung zu 50 Tagessätzen zu je 45 Euro.
Die heute-show verleiht regelmäßig "Goldene Vollpfosten" an Politiker, doch ein sichtbar satirisches Bild, auf dem Holzpfosten, Metallpfosten und Kunststoffpfosten neben einem als "Vollpfosten" beschrifteten Foto von Robert Habeck zu sehen waren, resultierte vor einem bayrischen Gericht in 2.100 Euro Geldstrafe.
Auch den "Vollpfosten" hatte Habeck übrigens persönlich angezeigt. "Erdowahn" hatte 2016 im NDR als legitime Satire gegolten. Heute stellen einige deutsche Minister Strafantrag bei herabwürdigenden Verballhornungen ihrer Namen, nämlich "Blödbock" und "Hadreck", im Kontext einer Sachkritik an Politikern, die sich zu jener Zeit (2022) für eine allgemeine Corona-Impfpflicht einsetzten.
Für die verballhornten Namen und eine ausgesprochen blöde Beleidigung gegen Anton Hofreiter ("Wenn du riechst, wie Anton Hofreiter aussieht, sehen wir uns auf der Straße") wurde der Täter vom Münchner Amtsgericht zu einer Geldstrafe von insgesamt 6.000 Euro verurteilt, immerhin weniger als die 45.000, die die Staatsanwaltschaft ursprünglich hatte haben wollen.
"Dümmste Außenministerin der Welt" bezüglich Baerbock galt dem Amtsgericht Kronach als strafbar.
Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass gerade im autoritären Bayern, viel weniger in anderen Bundesländern, Strafantrag stellende Politiker auch in zweifelhaften Fällen wie den eben berichteten Recht bekommen und nicht nur bei Formalbeleidigungen der bösartigen Sorte im Stil Böhmermann.
Merkwürdig ist schon eher die nahtlose Zusammenarbeit ausgerechnet grüner Politiker mit der konservativen bayrischen Hardliner-Exekutive. Die Grünen sind jene Partei, deren Spitzenkraft Fischer einst einen Bundestagspräsidenten vor laufenden Kameras, ins Gesicht und ohne nachvollziehbaren Grund "ein Arschloch" nannte, was Fischers Popularität damals keinen Abbruch tat.
Hier konvergieren wohl zwei Ziel- und Wertvorstellungen: Die alten obrigkeitsstaatlichen, die dem Bürger Aufmucken gegenüber der Autorität verbieten wollen, und der Wunsch, die als gefährdet empfundene Demokratie und deren Vertreter vor Hass und Hetze zu schützen.
Fazit des bisher Gesagten: Bis vor wenigen Jahren galt es als Inbegriff und Kennzeichen der freiheitlichen Demokratie, dass Bürger über Politiker frei und auch unflätig öffentlich ihre Meinung sagen können und Politiker das aushalten müssen.
Konsens war, dass Politikern wegen ihrer Macht und exponierten Position viel mehr an Beleidigung zugemutet werden darf als gewöhnlichen Bürgern.
Jedem hätte vor zehn oder zwanzig Jahren eingeleuchtet, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung sich gerade auch dadurch von der DDR, dem Naziregime und der Putindiktatur unterscheidet, dass man in aller Öffentlichkeit "Regierungsmitglied X ist ein Vollpfosten" sagen kann, ohne dass man es mit Staatsanwaltschaft, dem Staatsschutz oder der Kripo zu tun bekommt.
Heute ist es umgekehrt: Neuerdings verteidigt man die Demokratie, indem man Politiker mithilfe des Strafrechts gegen Beleidigung schützt. Menschen, die das Netz mit KI nach mutmaßlichen Politiker-Beleidigungen durchfischen lassen, um diese zur Anzeige zu bringen, sehen sich als Helden der Demokratie.
War Netz-Hetze der Grund für den Mord an Walter Lübcke?
Natürlich gab es einen Anlass für die Gesetzes- und Einstellungsänderungen. Es war der Mord an Walter Lübcke im Jahr 2019. Doch war "Beleidigungen von Politikern konsequent verfolgen" tatsächlich eine sinnvolle oder gerechtfertigte Reaktion auf diesen rechtsradikalen Mord?
Dafür spricht wenig. Walter Lübcke war weder das erste noch das letzte Opfer von Terrorismus oder Rechtsterrorismus in Deutschland. Vor allem aber geschah dieser Mord nicht, weil der Täter sich durch Beleidigungen gegen das Opfer, die im Netz kursierten, hätte aufhetzen lassen.
Lübke, Regierungspräsident in Kassel, war verhasst in den gewaltbereiten Neonazi-Kreisen, aus denen er getötet wurde, weil er 2015 bei einer schwierig verlaufenden Bürgerversammlung in Lohfelden zum Thema Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft etwas gesagt hatte ("wer diese Werte nicht vertritt, kann das Land verlassen"), das Empörung bei Anwesenden erregte, insbesondere bei jenen, die als störende Zwischenrufer und Protestierer gegen die Flüchtlingsaufnahme direkt angesprochen waren. (Dokumentiert findet sich das etwa in der SWR-Doku "Tödlicher Hass - der Mordfall Walter Lübcke").
Es brauchte keine fäkalen Ausdrücke, um Rechtsgeneigte gegen Lübcke in Rage zu bringen. Es reichte, den Videoausschnitt mit Lübckes Aussage von der Bürgerversammlung zu zeigen. Das Lohfelden-Video kursierte auch keineswegs nur in den sozialen Medien.
Es wurde 2015 in der Hessenschau des ARD-Regionalprogramms einer großen Öffentlichkeit gezeigt1, und zwar wegen der empörten Reaktion einiger der anwesenden Zuschauer.
Der Täter selbst brauchte aber gar keine Medien, ob nun traditionelle oder "soziale", um sich auf Walter Lübcke einzuschießen. Denn der spätere Mörder, ein seit den 1990er-Jahren polizeibekannter Neonazi, war bei der Bürgerversammlung persönlich anwesend.
Neben ihm saß ein guter alter Nazi-Bekannter, der später beim Besorgen einer Waffe half, ebenso beim Schießtraining vor dem Mord. Die beiden Neonazis waren höchstselbst die Quelle, nicht die Konsumenten, des in der Folge im Netz kursierenden Handyvideos von der Lohfeldener Versammlung. Beide gehörten auch zu jenen, die sich vor Ort bereits lautstark über Lübcke erregten und die als Teil der Zwischenrufer von Lübcke direkt angesprochen waren.
Es gibt also wenig Grund anzunehmen, dass der neu eingeführte Straftatbestand "Beleidigung von Politikern", hätte es ihn damals schon gegeben, den Hass des Mörders auf Lübcke und seine Mordfantasien hätte verhindern können.
Dies dürfte mutatis mutandis auch für viele andere Täter gelten, die in den Jahren nach 2015 Lokalpolitiker angriffen. Es ist nicht besonders wahrscheinlich, dass Personen, die ihren Bürgermeistern Morddrohungen ins Gesicht spucken oder sie mit dem Messer angreifen, dies hauptsächlich deshalb tun, weil sie Beleidigungen über ihre Opfer im Netz gelesen haben.
Lokalpolitiker wurden ab 2015 von einer Welle verbaler und physischer Aggression überrollt, die in erster Linie eben nicht im Netz stattfand und gerade deshalb so belastend und gefährlich war.
Quelle dieser Aggressionen waren rechtsgeneigte Leute, zumeist mit Nazi-Hintergrund, die Flüchtlinge als "Invasoren" wahrnahmen (so ein Zwischenrufer auf der Lohfeldener Bürgerversammlung) und die sich mit ihren Ohnmachts- und Hassgefühlen an dem Teil des politischen Apparats abreagierten, den sie erreichen konnten.
Speziell bei der Lübcke-Tat, anders als beim Attentat gegen Henriette Reker, hätte es Chancen zur Vorbeugung gegeben. Morddrohungen und Gewaltaufrufe gegen Lübcke gab es schon am Abend nach der Bürgerversammlung per Mail und im Netz. Diese sind nach § 111 StGB strafbar und wurden auch an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Im Kontext dieser Ermittlungen hätte man eigentlich auf den späteren Lübcke-Mörder stoßen müssen, und zwar gerade mithilfe der sozialen Netzwerke, denn er hatte ja gemeinsam mit seinem Kumpan den Videoausschnitt mit hetzerischen Kommentaren ins Netz gestellt.
Auf Fotos der Veranstaltung sind beide Neonazis zu sehen, auf dem Video wohl auch die Stimme eines der beiden zu hören, wie er unter anderem "Verschwinde!" ruft; gemeint ist Lübcke (in der SWR-Doku bei Minute 9:14).
Der spätere Mörder war bereits wegen zahlreicher rechtsextremer Gewalttaten verurteilt worden, darunter mindestens drei, die man als Mordversuch werten könnte (ein Brandanschlag, ein Sprengstoffanschlag, ein Messerattentat mit lebensgefährlichen Verletzungen).
Mehrerer weiterer Gewalttaten, darunter eines Totschlags, war er verdächtig, konnte aber nicht gerichtsfest überführt werden. Trotz alledem wurden weder er noch sein Kumpan als potenzielle Gefährder Lübckes erkannt. Sie wurden nicht überwacht.
Natürlich wurden ihnen auch keine elektronischen Fußfesseln angelegt, die Alarm hätten geben können, sobald einer der beiden sich Lübckes Haus oder Arbeitsplatz nähert. Der spätere Mörder konnte unbehelligt in Vorbereitung seiner Tat Schießtrainings auf einem legalen Schießstand absolvieren, sein Neonazi-Kumpan durfte legal Waffen besitzen.
Die sachlich angemessene Weigerung der Stadt Kassel, dem als Neonazi Bekannten eine Waffenbesitzkarte auszustellen, konterkarierte 2015 ein Gericht, das die Stadt zur Ausstellung verpflichtete.
Die Verbindung des Betroffenen zu den Morddrohungen an Lübcke erkannten weder das Gericht noch die Stadt. Als 2016 in der Nähe der Wohnung des späteren Lübcke-Mörders ein irakischer Flüchtling nachts mit einem Messer schwer verletzt wurde, hatte man den späteren Lübcke-Mörder zwar im Verdacht, verzichtete aber auf eine Hausdurchsuchung. Hätte man die Durchsuchung gemacht, hätte man das Tatmesser mit Blutspuren des Irakers gefunden.
Im Nachhinein zeigt sich wie oft in solchen Fällen ein Bild von mangelnder Weitergabe von Informationen zwischen Behörden, Verantwortungsdiffusion und fehlender Initiative beim Nutzen bestehender Informationen und Möglichkeiten.
Nichts an der Neufassung des Paragrafen 188 ist geeignet, diese Lage zu verbessern.
Eher wird die bestehende Überlastung von Polizei und Justiz verschärft durch eine Gesetzes- und Praxisänderung, die die massenhafte Verfolgung von Bagatelldelikten befördert. Walter Lübcke hätte dauerhafter Personenschutz geholfen. Für den war kein Personal da.
Letztlich ist es aber wie bei Terrorismus und Attentaten immer: Ganz verhindern lassen sich solche Taten nicht. Selbst dann nicht, wenn man ein Land in eine repressive Diktatur verwandelt.
Man muss das Strafrecht gegen autoritären Missbrauch absichern, nicht ihn befördern
Hat man aber nicht vor, wie in einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod die freiheitliche Demokratie in eine autoritäre zu verwandeln, um sie vor ihren Feinden zu schützen, sondern will man im Gegenteil die freiheitliche Demokratie erhalten, sollte man zumindest nicht potenziellen autoritär-faschistoid geneigten Wahlgewinnern in Ländern, Kommunen oder Bund die maßgeschneiderten Gesetze schon vorher in den Rachen werfen.
Die Justiz, so lehrt die historische Erfahrung, wird früher oder später in der politischen Schlagseite ihrer Interpretationen immer dem aktuellen Geist der Regierenden folgen.
Ja, die sozialen Medien haben einen Paradigmenwechsel im öffentlichen Diskurs geschaffen, mit dem wir umgehen lernen müssen. Beleidigungen, Diffamierungen und bösartige Unterstellungen, wie sie in sozialen Medien täglich vorkommen, sind schädlich für einen sachlichen Diskurs, schwächen das Vertrauen und den Zusammenhalt und können hetzerische Wirkung entfalten.
Der Clickbait-Effekt und blasenfördernde Algorithmen, die zusammen extreme Positionen und polarisierend verkürzte Darstellungen puschen, sind dabei vermutlich schwerer wiegende Probleme als die Möglichkeit von Bürgern ohne Reichweite, ihr Stammtischpoltern zu veröffentlichen. Jedenfalls, soweit es sich dabei um bloße Beleidigungen handelt und nicht über § 111 StGB strafbare und zu verfolgende Mordaufrufe.
Was Terrorismus betrifft, so scheint das Internet nicht nur ein Ort der Radikalisierung und die Quelle neuer Gefahren zu sein, sondern mindestens ebenso sehr Geheimdiensten und der Polizei das Auffinden und die Überwachung von Gefährdern zu erleichtern.
Nicht ohne Grund haben die Hamas-Terroristen ihre Aktion vom 7.10.2023 vollständig mit Offline-Kommunikation vorbereitet, nicht anders als einst die RAF, die PLO und der NSU. Der gesamte Terrorismus des 20. Jahrhunderts ist ohne soziale Medien ausgekommen, alle seine Katastrophen, Massenmorde und Attentate gab es ohne sie.
Dass gerade Beleidigungen gegen Politiker im öffentlichen Raum, so unschön sie auch sein mögen, Gewalt befördern, dafür gibt es bislang zumindest wenig Anzeichen.
Mit dem alten Paragrafen 185 gegen Beleidigung, mit den Gesetzen gegen Volksverhetzung und gegen Gewaltaufrufe stehen auch bereits gute Möglichkeiten zur Verfügung, hetzerische, gesellschaftsschädliche Äußerungen zu verfolgen.
Kann man aus dem Lübcke-Mord überhaupt etwas für die Gesetzgebung lernen, dann vielleicht am ehesten dies: Der Gesetzgeber sollte dafür sorgen, dass Personen, die als Neonazi oder anderweitig gewaltaffin oder verfassungsfeindlich aktiv waren, nicht legal ein ganzes Waffenlager erwerben können, wie es dem Kumpan des Täters möglich war.
Der Paragraf 188 StGB in seiner jetzigen Form und die zugehörige Umwandlung der Politikerbeleidigung vom Antragsdelikt zum Semi-Offizialdelikt sind dagegen im Kontext des Mords an Walter Lübcke irrelevant. Vor allem aber haben solche Gesetze in einer freiheitlichen Demokratie nichts zu suchen. Die Paragrafen 188, 194 und 185 sollten auf ihre Form von vor 2020 zurückgeführt werden.
Wer das Verfassungsgericht gegen den Missbrauch durch rechtsextreme Parteien absichern will, der sollte das auch mit dem Strafrecht tun, statt den Trumps, Höckes oder Mileis dieser Welt die Herrschaftsinstrumente auf dem Silbertablett zu servieren.
Ruth Berger ist promovierte Judaistin und Schriftstellerin. Sie veröffentlichte neben wissenschaftlichen Schriften eine größere Zahl an Romanen sowie ein Buch über die Naturgeschichte der Sprache. Sie schreibt seit 2012 gelegentlich für Telepolis.