"Schwäche tötet unsere Leute"

Ein UN-Bericht rät den Blauhelmen zu mehr Gewalt im Einsatz

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2017 sind 56 UN-Blauhelme im Einsatz getötet worden, so viele wie noch nie in einem Jahr. Ein UN-Bericht schlägt deshalb Alarm, aber die Schlussfolgerungen sind so einfach wie umstritten: Die blaue Fahne der Vereinten Nationen biete den UN-Soldaten keinen Schutz mehr, sie müssten deshalb mehr militärische Gewalt einsetzen.

Laut UN sind bei allen Einsätzen seit 1948 3500 Blauhelme ums Leben gekommen, 943 durch Gewalt. Inzwischen registrieren die UN aber mehr Todesfälle: So sind seit 2013 195 Blauhelme durch Angriffe getötet worden, so viele wie noch nie in fünf Jahren. UN-Generalsekretär António Guterres hatte deshalb im November 2017 Carlos Alberto dos Santos Cruz, einen ehemaligen Generalleutnant aus Brasilien, beauftragt, herauszufinden, warum die so viele Blauhelme getötet wurden und was dagegen getan werden kann. Mit seinen Mitautoren William R. Phillips und Salvator Cusimano hat dos Santos Cruz 160 Interviews geführt und UN-Missionen im Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, Mali und Südsudan besucht.

Die Empfehlungen des Reports sind eindeutig: Die Blauhelme bräuchten bessere Ausbildung, modernes Gerät und größere Freiheit, auf Bedrohungen durch Bewaffnete zu reagieren, so der Bericht. Und das heißt: auch militärisch zu reagieren. "Unglücklicherweise verstehen feindliche Kräfte keine andere Sprache als die der Gewalt", so der Report, der mit den Worten schließt: "Wir müssen die Art und Weise ändern, wie wir arbeiten. Schwäche tötet unsere Leute."

Blauhelme - weg vom ursprünglichen Auftrag

Doch die Vorschläge sind UN-intern umstritten. Generalsekretär Guterres hat sie sich bisher nicht zu eigen gemacht. Den Bericht erhielt er vor Weihnachten, veröffentlichte ihn aber erst im neuen Jahr, auf Druck mehrerer Mitgliedsstaaten. Denn die Blauhelme würden sich damit noch weiter von dem entfernen, als was ihr Einsatz ursprünglich gedacht war: als neutrale Mission zwischen den Fronten. Für eine Blauhelm-Mission sind drei fundamentale Prinzipen nötig, die der damalige Generalsekretär Dag Hammerskjöld formuliert hat: So müssen erstens das jeweilige Land und die Betroffenen zustimmen. Zweitens setzen die Blauhelme Gewalt nur zur Selbstverteidigung ein. Drittens sind sie unparteilich.

Erstmals eingesetzt wurden die blauen Helme 1960 während der Kongo-Krise. Das ist lange her und das UN-Peacekeeping hat sich seither immer mehr verändert. Im Kongo erhielten die Blauhelme ab 2013 erstmals einen Kampfauftrag. Eine Interventionsbrigade mit rund 3000 Soldaten wurde aufgestellt, die zunächst erfolgreich gegen die M23-Rebellen und andere Milizen vorging. Carlos Alberto dos Santos Cruz, der Autor des UN-Berichts, dürfte diesen Einsatz bestens kennen, denn er war zwischen 2013 und 2015 Befehlshaber der UN Organization Stabilization Mission (MONUSCO) im Kongo.

Arme Blauhelme, reiche Finanziers

Vor allem die Länder, die die UN-Blauhelme stellen, analysieren das Problem ganz anders als Carlos Alberto dos Santos Cruz. Sie sehen in den robusteren Mandaten, bei denen UN-Soldaten nicht mehr als Neutrale zwischen Fronten agieren, die Ursache für die gestiegene Zahl der Todesfälle. Die Empfehlungen von dos Santos Cruz laufen dagegen darauf hinaus, diese Einsätze noch auszuweiten. Den Kopf dafür hinhalten müssten vor allem die ärmeren Länder, die das Gros der Blauhelme stellen: Zum Jahresende 2017 war Äthiopien mit 8420 Soldaten der Haupttruppensteller, gefolgt von Bangladesh (7246), Indien (6697), Ruanda (6498), Pakistan (6238), Nepal (5492), Ägypten (3274), Senegal (3215), Indonesien (2688) und Ghana (2678).

Die reichen Länder finanzieren die Einsätze nur. Im Haushaltsjahr 2017/18 waren 6,8 Milliarden Dollar veranschlagt. Die Top Ten der Finanziers waren - in dieser Reihenfolge - die USA (28,47%), China (10,25%), Japan (9,68%), Deutschland (6,39%), Frankreich (6,28%), Großbritannien (5,77%), Russland (3,99%), Italien (3,75%), Kanada (2,92%) und Spanien (2,44%). Das entspricht der Gruppe der G7 plus China, Russland und Spanien. Die fünf Großmächte China, Frankreich, Großbritannien, Russland und USA beschließen zudem als ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat die Einsätze mit.

Von Krise zu Krise

Wie Blauhelme eingesetzt werden sollen, darüber wird schon länger debattiert. Eine wichtige Wegmarke war der Brahimi-Report aus dem Jahr 2000. Als richtungsweisend gefeiert, beförderte er die Ausweitung der UN-Einsätze. Das offensivere Vorgehen, das heute Carlos Alberto dos Santos Cruz fordert, war dort schon viel ausführlicher gefordert worden:

Die Einsatzrichtlinien sollen den VN-Kontingenten nicht nur gestatten, Angriffe Schlag um Schlag zu vergelten, sondern sie auch zu Gegenangriffen ermächtigen, um dem tödlichen Beschuss von VN-Truppen oder der von ihnen zu schützenden Menschen ein Ende zu setzen; in besonders gefährlichen Situationen sollten sie die VN-Kontingente nicht dazu zwingen, ihren Angreifern die Initiative zu überlassen.

Die Ausweitung der Mandate hatte Folgen: So konstatierte die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) eine "Peacekeeping-Krise": Immer ehrgeizigere Ziele hätten den Blauhelmen das Stigma des Scheiterns eingetragen, schrieb SWP-Mitarbeiter Denis M. Tull. Dabei dürfe man aber nicht vergessen, dass die Konfliktbearbeitung durch die UNO in der Regel effizienter und erfolgreicher sei als etwa durch die NATO oder Bündnisse wie eine Koalition der Willigen. "Die Krise des VN-Peacekeepings ist das Ergebnis quantitativer Überdehnung und qualitativer Überforderung von Kapazitäten."

Schlechte Bilanz der militarisierten UN-Einsätze

Doch selbst Befürworter robuster Mandate räumen deren schlechte Bilanz ein. Claus Kreß, Völkerrechtler an der Universität Köln, sagte 2013 in einer Stellungnahme vor dem Menschenrechtsausschuss des Bundestages, die Vereinten Nationen hätten "mit ihren bisherigen militarisierten friedenserhaltenden VN-Missionen keine uneingeschränkte Erfolgsgeschichte geschrieben".

Das liege nicht nur an mangelnden Erfolgen, weil Blauhelme etwa die Völkermorde in Ruanda 1994 und Srebrenica 1995 nicht hätten verhindern können, so Kreß. Schon 2013 schrieb der Völkerrechtler einen Satz, der heute aktueller ist denn je: "Vielmehr trüben in nicht wenigen Einsätzen ganz erhebliche Verluste unter den VN-Friedenstruppen selbst das Bild." Viele der "militarisierten friedenserhaltenden VN-Operationen" hätten erheblich Probleme gehabt. Kreß' Aufzählung beginnt in Jugoslawien und Somalia Anfang der 1990er Jahre und endet in Darfur, der Zentralafrikanischen Republik und Tschad. Lediglich in Haiti und Ost-Timor hätten militarisierte friedenserhaltende Operationen Erfolg gehabt.

Trotz dieser ernüchternden Bilanz lehnte Claus Kreß es ab, "die Praxis der friedenserhaltenden Missionen zu demilitarisieren und in der Folge auf das klassische Verständnis Dag Hammarskjölds zurückzuführen", wie es James Sloan in seiner Studie "Militarisation of Peacekeeping in the Twenty-First Century" vorgeschlagen habe.

"Eine radikale Demilitarisierung der friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen ist nicht zu befürworten", sagte Kreß. Es bestehe die akute Gefahr, "dass die Staatengemeinschaft in bestimmten hochvolatilen friedensbedrohenden Situationen ganz untätig bliebe. Dieser Preis für die Rückkehr zum klassischen peacekeeping erschiene mir zu hoch". Stattdessen rät Kreß zu konkreten Verbesserungen. Bisherige Einsätze hätten gelitten unter fehlender Unterstützung des UN-Sicherheitsrates, fehlendem stringenten Kommando, zu wenig Soldaten, fehlender Ausrüstung und Abhängigkeit von lokalen Sicherheitskräften.

Kein Frieden im Kongo

Auch im Kongo hat der erste Kampfeinsatz der UN im Kongo ab 2013 noch nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Nach anfänglicher Euphorie über den Sieg der UN Organization Stabilization Mission (MONUSCO) über die Rebellen der M23-Bewegung ist inzwischen Ernüchterung eingekehrt. "Tausende wurden in den vergangenen Monaten in der südlichen Provinz Kasai bei Kämpfen getötet", bilanzierte die taz im Juli 2017. Und Denis M. Tull von der SWP bilanziert bilanziert2016:

Die Bilanz zeigt indes sowohl, dass die Brigade nicht als nachahmenswertes organisatorisches Pilotmodell gelten kann, als auch, dass friedenserzwingende Mandate nicht unbedingt mehr Erfolg bei der Friedenssicherung bedeuten.

Denis Tull

Auch die Vereinten Nationen mussten wieder Verluste hinnehmen. Ende 2017 wurden im Kongo bei einem Angriff auf den UN-Stützpunkt in Semuliki 15 Blauhelme aus Tansania getötet und 43 verwundet. UN-Generalsekretär Guterres sprach von der "schlimmsten Attacke" in jüngster Zeit. Täter sollen die Allied Democratic Forces (ADF) gewesen sein, eine islamistische Miliz, die für zahlreiche Massaker und Anschläge verantwortlich ist. Zuletzt wurde am 27. Januar 2018 in Baraka im Kongo ein Blauhelm-Soldat aus Pakistan getötet. Der Sicherheitsrat verurteilte die Tat und betonte, dass es sich dabei nach internationalem Recht um Kriegsverbrechen handelt.

Angesichts der Krise forderte Jean-Pierre Lacroix, UN-Untergeneralsekretär und Chef der Blauhelme, den Sicherheitsrat auf, mehr zum Schutz der Blauhelme zu tun. "Wir werden angegriffen von bewaffneten Gruppen, die plündern, töten, vergewaltigen und kein Interesse an friedlichen Lösungen haben." Deshalb brauche es bessere Ausbildung, Ausrüstung und die richtige Herangehensweise. Lacroix stellte dafür einen Aktionsplan auf. Zusammen mit dem Cruz-Report solle so die Zahl der Todesfälle reduzieren werden. Von einem klassischen Blauhelmeinsatz entfernen sich die Blauhelme damit immer weiter.