Ukraine-Krieg: Rote Linien deutscher Waffenhilfe – eine Chronologie
Seit heute darf ukrainisches Militär deutsche Waffen gegen Ziele in Russland einsetzen. Das war angesichts der Eskalationsgefahr lange tabu. Eine Rückschau.
Im August 2023 wurde Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aus den Reihen der CDU noch fehlendes Vertrauen in die Ukraine vorgeworfen, als er Bedenken gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern ohne Reichweitenbeschränkung hatte, weil damit Ziele in Russland angegriffen werden könnten und Deutschland dann im Kreml als Kriegspartei wahrgenommen würde.
Vertrauensfrage unter Waffenbrüdern
Das Argument des außenpolitischen CDU-Hardliners Roderich Kiesewetter war damals noch nicht "Die Ukraine darf das", sondern sinngemäß: "Die Ukraine wird das schon nicht machen". Die "rote Linie" als solche wurde damit noch nicht offen infrage gestellt. Im Februar dieses Jahres forderte Kiesewetter jedoch: "Der Krieg muss nach Russland getragen werden".
An diesem Freitag war es dann so weit: Die Bundesregierung erlaubt der ukrainischen Führung, aus Deutschland gelieferte Waffen gegen militärische Ziele in Russland einzusetzen. Das teilte Sprecher Steffen Hebestreit am Vormittag in Berlin mit.
Die Ukraine sei in den vergangenen Wochen "insbesondere im Raum Charkiw von Stellungen aus dem unmittelbar angrenzenden russischen Grenzgebiet" angegriffen worden, sagte Hebestreit zur Begründung. "Gemeinsam sind wir der Überzeugung, dass die Ukraine das völkerrechtlich verbriefte Recht hat, sich gegen diese Angriffe zu wehren."
Ukraine-Waffenhilfe und rote Linien seit Februar 2022
In den Debatten um deutsche Waffenlieferungen seit Beginn der russische Invasion im Februar 2024 waren angesichts der Eskalationsgefahr immer wieder "rote Linien" genannt worden, nach deren Überschreitung Deutschland und die Nato vom Kreml als Kriegspartei betrachtet werden könnten. Deshalb hatte Scholz auch gezögert, für die Panzerlieferungen grünes Licht zu geben.
Die rote Linie der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags
März 2022: Die Debatte um Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe für ukrainische Streitkräfte sowie deren völkerrechtliche Dimension ist im vollen Gang. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags stellen in einem Gutachten fest:
Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen.
Aus: Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Nato-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme / Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, März 2022
Juli 2022: Die Bundesregierung genehmigt die Lieferung schwerer Artillerie an die Ukraine. Geliefert werden zunächst 14 "Panzerhaubitzen 2000″, mit einer Reichweite von 30 bis 40 Kilometern erreichen. Hinzu kommen fünf Raketenwerfer des Typs Mars II mit Reichweite von bis zu 84 Kilometern.
Panzerlieferung und ein Scholz-Versprechen
Januar 2023: Die Bundesregierung kündigt nach langer Debatte die Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine an. Als finale rote Linie nennt Bundeskanzler Scholz die Lieferung von Kampfjets und die Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine. Darauf könnten sich alle verlassen, dies habe er auch gegenüber dem US-Präsidenten deutlich gemacht.
Dass es nicht um Kampfflugzeuge geht, habe ich ja sehr früh klargestellt und mache das auch hier. (…) Bodentruppen werden wir in keinem Fall schicken. Ich habe gesagt, es wird keine direkte Beteiligung von Nato-Soldaten in dem Ukraine-Krieg geben.
Bundeskanzler Olaf Scholz im Januar 2023
Gesicherter Bereich der Nichtkriegsführung verlassen
Februar 2023: Die Ausbildung von Truppenteilen aus der Ukraine durch die European Military Assistance Mission Ukraine (European Union Military Assistance Mission Ukraine) in Europa hat begonnen – in Deutschland werden sie unter anderem am Leopard 2 A6 ausgebildet. Deutschland verlässt damit laut Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags den "gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung".
August 2023: Es wird über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern mit oder ohne Reichweitenbeschränkung diskutiert. Reguläre Reichweite der bunkerbrechenden Waffe: mindestens 500 Kilometer. Ob die Ukraine Wort halten würde, sie ohne technische Reichweitenbeschränkung nicht gegen Ziele in Russland einzusetzen, gilt als Vertrauensfrage.
31. Mai 2024: Die Bundesregierung erlaubt den ukrainischen Streitkräften, mit Waffen aus Deutschland gegen Ziele in Russland einzusetzen.
Atomkriegsgefahr: Blufft Putin verlässlich?
Befürworter verweisen darauf, dass der russische Präsident Wladimir Putin schon öfter mit roten Linien "geblufft" habe, die bereits überschritten worden seien, ohne dass eine für den Westen harte Reaktion – etwa mit Atomwaffen – erfolgt sei.
Gegnerinnen weiterer Waffenlieferungen, wie die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (BSW) wollen sich nicht darauf verlassen, dass dies auch in Zukunft so bleibt. "Brandgefährlich und unverantwortlich" nennt sie daher die heute verkündete Entscheidung.