Schweden: Die Hilflosigkeit gegenüber der Gewalt
Täglich fallen Schüsse in Schwedens Bandenkriegen, wöchentlich wird von Toten berichtet
In der Nacht zum Freitag traf es den 19-jährigen Nils Grönberg, ein Rapper, bekannt unter dem Künstlernamen "Einár". "Ich weiss, wie viel er für die jungen Menschen bedeutet", kondolierte Premierminister Stefan Löfven aus Brüssel.
Einár wurde nahe seinem Zuhause in einer gutbürgerlichen Wohngegend erschossen. Nach Medienberichten soll er kurz zuvor eine Ladung vor Gericht als Zeuge erhalten haben - in einem Fall, der mit den Bandenkriegen zu tun hat.
Der Rapper Einár, klassisch mit Baseballkappe und Goldkette ausgestattet, war in beiden Welten zu Hause - er ist aus bürgerlicher Herkunft, seine Mutter ist die durch Kinofilme bekannte Schauspielerin Lena Nilsson, seine Texte waren 2019 in Schweden die meistgespielten auf Spotify, das distinguierte öffentlich-rechtliche Sveriges Radio ehrte ihn mit einer Auszeichnung. Vier musikalisch vielseitige Alben hatte er herausgebracht.
Auf der anderen Seite machte er schon früh Bekanntschaft mit Jugendstrafanstalten. Seine Texte gehörten der "Gangsta"-Welt an - wie auch sein wirkliches Leben - er wurde bereits wegen Drogenbesitz und Körperverletzung verurteilt, sowie 2020 von dem konkurrierenden Rapper Yasin und Mitglieder des Varby Netzwerkes, einer kriminellen Organisation gekidnappt, misshandelt und in den sozialen Medien vorgeführt. Gegen diese Gang hätte er aussagen sollen.
Ausufernde Kriminalität
Die ausufernde Kriminalität beschäftigt die schwedische Öffentlichkeit seit Langem weit mehr als die Pandemie. Das Land hat nach einer staatlichen Erhebung seit 2018 die höchste Rate an Toten durch Schusswaffen innerhalb Europas.
Während die jüngeren Kinder in der Pandemie durchgehend auf die Schule gehen konnten und so weit weniger mit den psychischen Problemen konfrontiert wurden, die viele Altersgenossen anderen Ländern mit Lockdown erleben mussten, werden die Schießereien, die die jungen Schweden unmittelbar oder mittelbar über soziale Medien und die etablierten Medien wahrnehmen, zu einer Bedrohung ihrer psychischen Gesundheit.
Eine traumatisierte Generation
Dabei ist Einár das erste Opfer, das schwedenweit bekannt ist, besonders bei älteren Kindern und Jugendlichen.
Die Tageszeitungen bemühen nun Psychologen, die den Eltern Hilfestellung nach dem Tod des Idols vermitteln. Fragen wie "Muss ich nun selbst Angst haben?" sollten die Eltern nicht einfach abtun, so etwa die Kinderpsychologin Malin Bergström.
Doch welche Antwort sie ihnen gegeben könnten, verrät die Ratgeberin nicht.
"Eine traumatisierte Generation wächst heran", so der Kinderpsychologe Johan Hagborg im öffentlich-rechtlichen Fernsehen SVT bereits im Juli. Dabei entstehe eine paradoxe Situation - gerade da die Kinder von der Gewalt verängstigt werden, sehnen sie sich nach einer starken Beschützerperson - und genau dies können die kriminellen Gangs ihnen suggerieren.
Die Folgen seien bei der sogenannten "Rekrutierung" sichtbar. In dem immer aggressiver werdenden Kampf um Drogenreviere, mittlerweile sind neben Haschisch auch Crystal-Meth, Kokain sowie das Sinaloa-Kartell mit im Spiel, werden immer jüngere Mitglieder angeworben, die zumeist als Drogenkuriere arbeiten. Im Raum Göteborg wenden sich die Gangs bereits an Zehnjährige.
Neben den Vororten der drei großen Städte Stockholm, Göteborg, Malmö spielt sich die Gangkriminalität auch in kleineren Orten ab.
Zum Beispiel in Linköping. Dort kämpfen "Bandidos", "X-team" und "Bergagänget" um die Drogenreviere. Zwischen Mai und Oktober kamen es zu vier Morden mit Schusswaffen, die diesen Auseinandersetzungen zugerechnet werden.
Insgesamt gab es 2021 bislang 17 Schießereien in der Universitätsstadt mit 100 000 Einwohnern. Die Kommune will nun den relativ hohen Betrag von 80 Millionen Kronen (acht Millionen Euro) für kommende Sicherheitsmaßnahmen und Gewaltprävention bereitstellen.
Prävention: Hilflosigkeit überwiegt
Zum einen soll mit mehr Personal das Sicherheitsgefühl an den Schulen gestärkt werden, dabei müssten, ein typisch sozialdemokratischer Ansatz, die schwächeren Schüler mehr durch Nachhilfe gestärkt werden. Mehr Kameras, mehr Personal und mehr sogenannte "Nachtwanderungen" mit angeleiteten Freiwilligen würden auf den Straßen Präsenz der Bürger und des Staates zeigen.
Die größte Herausforderung liegt jedoch darin, dass die "Rekrutierung", das Anwerben von Kindern und Jugendlichen für die Gangs unterbrochen wird. Sozialbehörden, Schulen und Polizei sollten hier zusammen wirken. Auch gibt es eine Gruppe, die sich mit der auf Ehrenkodex bezogenen Gewalt befasst.
In vielen Kommunen wird nun für ein engeres Kooperieren von Freiwilligen und Behörden geworben, was früher oft an Formalitäten scheiterte.
Doch Konkretes ist bislang nicht zu erfahren, wie etwa dem Zauber beizukommen sei, die die Banden auf viele Heranwachsende ausüben. Allgemein scheint die Hilflosigkeit zu überwiegen. Dass die tatsächliche und mediale Präsenz der Gangs sich auf die Psyche der Kinder bedrohlich auswirkt, wird allgemein diskutiert, Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung fehlen bislang.
Die Kinder mögen an den Staat glauben, wonach die Polizeikräfte den Banden auf den Fersen seien, wie es Psychologen Eltern vermitteln. Dies mag als beruhigendes Mittel seine Berechtigung haben.
Allerdings sollte man hierzu die Ordnungskräfte lieber nicht selbst fragen. Es gab schon weinende Polizisten vor den Kameras und Aussagen wie "wir kommen nicht zurecht". Für den Alltag der Polizisten habe sich trotz vieler Ansagen der Politiker nichts verändert, so deren Klage.