Schweden - "weiche" Gründe für den Pandemie-Sonderweg
Warum wurden in Schweden Maßnahmen ohne Verbote gewählt und wieso gibt es den entsprechenden Rückhalt dafür in der Bevölkerung? - Ein Erklärungsversuch
Schweden geht in der Pandemie einen besonderen Weg und das Ergebnis ist noch offen. Weder hatten die Gegner wie die Befürworter des "Nicht-Lockdowns" wirklich recht bislang. Es sind keine "italienischen Verhältnisse" eingetreten, mit überfüllten Intensivstationen mit sterbenden Menschen, die statt eines Beatmungsgeräts Morphium bekommen. Auf der anderen Seite steht Schweden mit 570 Toten pro eine Million Einwohner weitaus schlechter da als Norwegen, wo 49 Tote auf eine Million kommen.
Doch warum wird ausgerechnet in Schweden dieser Weg gewählt und wieso gibt es den entsprechenden Rückhalt dafür in der Bevölkerung? Welche "weichen" Faktoren im Psychogramm des Landes sind entscheidend?
Als Jan Eric Litton, ein pensionierter Virologe, dem schwedischen Gesundheitsamt Ende April vorwarf, seit Februar keine umfassende Datenerfassung der Coronafälle in Schweden betrieben zu haben, um so die Verbreitung des Virus zu verfolgen, gab es eine bezeichnende Antwort von Anders Tegnell, dem Staatsepidemiologen und Architekten des schwedischen Sonderwegs.
"Es gibt ein gewisses Risiko, dass man Unruhe in der Bevölkerung schafft, wenn man raus geht und Fragen stellt", erklärte Tegnell gegenüber der Zeitung "Svenska Dagbladet". Auch unterließ es das schwedische Gesundheitsamt, in Kindergärten und Grundschulen zu forschen. Das brachte dem Land von ausländischen Wissenschaftlern Kritik ein, schließlich hätte Schweden als wohl einziges wohlhabendes Land in Europa, das den Lockdown vermied, wertvolle Daten erheben können.
"Unruhe schaffen" ist in Schweden besonders unerwünscht. Dies merkt man schon in Alltag, wo "Das ist ruhig" als häufigste Wendung zu hören ist - ein Mix aus "Alles in Ordnung" und "Nur die Ruhe". Auch zur Diskussion um den Schulbeginn in Schweden meinte der Staatsepidemologe wieder jüngst: "Es gibt das Risiko, Unruhe zu verbreiten."
Ein weiteres schwedisches Phänomen, das damit verbunden ist, scheint die Verdrängung zu sein. Tegnell selbst erklärte, dass man in der Pandemie angsterfüllt reagieren oder eben "abschalten" könne - er bevorzuge letzteres und das Wort "abschalten" benutzt er öfter. Dass man sich den Fakten stellt, unangenehme Szenarien vorrechnet und Klartext redet, wie es die politische Führung und teils die Gesundheitsexperten der skandinavischen Nachbarstaaten taten, kommt für ihn und viele Schweden als dritte Alternative anscheinend nicht in Frage.
Wirklichkeitsverweigerung?
Eine bekannte Vertreterin der Theorie von der schwedischen Neigung zur Verdrängung ist Elisabeth Asbrink, eine Journalistin und Schriftstellerin. In ihrem leider nicht auf Deutsch erhältlichen Buch "Wörter, die Schweden formten" meint sie, dass Schweden eine Art Kurzzeitgedächtnis haben und mit ihrer Neigung, jedem Trend folgen zu müssen, Vergangenes rasch ausblenden.
Diese These untermauert sie unter anderem mit Ingvar Kamprad, dem Ikea-Gründer, dessen bester Freund Otto UIlman ein nach Schweden geflohener Jude war, gleichzeitig unterhielt er auch nach dem Krieg Kontakte mit Rechtsextremen und Holocaustleugnern.
Das typische schwedische Selbstbild sei das "Gutsein" so Asbrink. Auch andere schwedische Autoren mit ausländischen Wurzeln werfen ihrem Land "Wirklichkeitsverweigerung" vor, sie sind lautstarke Kritiker der Corona-Maßnahmen.
Fehlende Erfahrung mit schweren Krisen
Als Ursache für das Verdrängen kann vielleicht fehlende Erfahrung mit einer Krise gesehen werden. Ganz anders die Nachbarn: Alle drei Länder haben Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs erlebt, am stärksten war Finnland betroffen. Das Land hat die im Kalten Krieg errichteten sogenannten "Bereitschaftslager" mit Masken und Schutzausrüstungen bis heute weiter gepflegt, die an geheimen Orten über das Land verteilt sind.
Die Finnen, die sich selbst gern als "Pessimisten" einstufen und vom Schlimmsten ausgehen, wie es auch der mittlerweile suspendierte Leiter dieser Lager erklärte, sehen die Schweden als Gegenpart, als "Optimisten". Seit der Napoleonzeit konnte sich das Königreich erfolgreich aus direkten militärischen Konflikten heraushalten. "Das Schlimmste" stand also in Schweden immer wieder mal an, ist jedoch bislang nicht eingetreten.
Hinzu kommt die schwedische Hörigkeit gegenüber Autoritäten. Die Politiker wie ein großer Teil der Bevölkerung hören auf die Aussagen des Gesundheitsamtes. Bislang setzte die rotgrüne Regierung unter Stefan Löfven die Empfehlungen der Behörde um. "Wir Hobbyepidemologen sollten vorsichtig mit zu rasch gefassten Folgerungen sein." Mit solchen Sätzen gibt der Politiker der Wissenschaft, beziehungsweise einem Teil, den Vortritt und vermeidet so das politische Handeln.
"Die professionellen Mediziner sollen ihren Job machen", so auch Ulf Kristersson, Chef der bürgerlichen Moderaten, der mittlerweile Löfven für dessen Handlungsschwäche kritisiert, ohne zuvor mit eigenen Gedanken aufgefallen zu sein.
Konsensdenken und Fürsorgepflicht
Aufgrund der Schwäche der Politik ist die Rolle des aktuellen Staatsepidemiologen weitaus staatstragender als die eines Mediziners, was nicht aufstößt, im Gegenteil. Landesvater" oder "unser Befreier" wird er gerne von den vielen Wohlgesonnenen genannt, die ihn mit bedruckten T-Shirts und anderen Fanartikeln feiern.
Ob bewusst oder nicht, beschwört Tegnell, als Typus des bescheidenen, etwas humorlosen Schweden, ein ersehntes Gemeinschaftsgefühl bei seinen Landsleuten. In Verbindung mit ihm taucht in den Medien immer wieder das Wort "Volksheim" auf, ein Gesellschaftsmodell, welches die Sozialdemokraten Ende der Zwanziger entwickelten und das die bis dahin harten Auseinandersetzungen zwischen Unternehmern und Arbeitern als Identitäts-Klammer beenden sollte (Auf der Suche nach dem Volksheim).
Diese Klammer scheinen nun Tegnell und die weiteren Mitarbeiter des Gesundheitsamtes zu bilden, die das Land, das in Fragen zur Einwanderung etwa gespalten ist, zu einem großen Teil eint. Auch das Konsensdenken der Schweden und die Fürsorgepflicht, welche die staatlichen Autoritäten traditionell übernehmen dürfen, kann erklären, warum die Corona-Maßnahmen bislang akzeptiert werden.
Ein Vertrauensverlust gegenüber dem Staat, der den Bürgern so viele Hilfestellungen anbietet, scheint in Schweden große Ängste auszulösen, wobei wir wieder bei dem Vermeiden von "Unruhe" sind. All die Fehleinschätzungen des Amtes, (Symptomlose seien nicht ansteckend, die Krankheit würde nur vereinzelt in Schweden auftreten, sei ähnlich der Grippe, die falschen Zahlen) wurden nur sehr widerstrebend korrigiert. Die Anwendung eines Mundschutzes lehnt die Behörde fast überall ab, erst im Mai konnte sich eine Expertin durchringen, eine halbherzige Empfehlung für das Personal des Altersheims zu erteilen. Bloß keine Selbstkritik, nur keine klare Korrektur falscher Entscheidung.
"Als ob die ganze Welt verrückt geworden wäre"
Dieses Vertrauen in den Staat ist so groß, dass sich dieser die Freiheit zu sozialen Experimenten nimmt, als Initiator, die Gesellschaft in seinem Sinne zu verändern
So wurde 1972 in Schweden eine Strategie mit dem Titel "Familie und Zukunft" verabschiedet, um die Emanzipation des Einzelnen von traditionellen, kollektivistischen Zwängen zu fördern. Eltern sollen sich von ihren Kindern befreien und umgekehrt, Frauen von den Männer, die Alten unter sich bleiben. Es sollten allein wahre Beziehungen zählen, die ein Individuum zu einem anderen pflegt. Mit ein Grund für die große Einsamkeit, unter der viele Schweden mittlerweile leiden, aber das nur nebenbei.
Wenn nun die Familie und andere Gemeinschaften als stärkende Kraft minimalisiert wurde, so ist das Verhältnis des Einzelnen zur staatlichen Autorität inniger, der Fachterminismus heißt "Staatsindividualismus".
Dank der Überzeugung von der Modellhaftigkeit schwedischer Errungenschaften in der Sozialpolitik gibt es eine Tendenz zum oberlehrerhaften Vermitteln des schwedischen "Gutseins" im Ausland, siehe etwa das Selbst- und Außenbild von der "humanitären Großmacht", das von Premierminister Olof Palme stammt.
Aber auch die jetzige Strategie wird forsch und teilweise arrogant von den schwedischen Befürwortern nach außen kommuniziert. "Es war, als ob die ganze Welt verrückt geworden wäre", so charakterisierte Anders Tegnell die Lockdown-Maßnahmen anderer Länder - das normale Schweden, umgeben von Nicht-Normalen.
Die Innenwelt gegen die Außenwelt - von Entwicklungen außerhalb Schwedens ist Tegnell generell "beunruhigt", von Tendenzen innerhalb Schwedens, wie etwa kürzlich eine Erhöhung der R-Zahl, zeigt er sich definitiv "nicht beunruhigt".
Könnte es sein, dass der stets bedächtig auftretende Mediziner mit der stets ungebügelten Oberbekleidung wie seine prominente Mit-Schwedin Greta Thunberg das Asperger-Syndrom hat? Zumindest das Beharren auf das eigene Modell und die Negierung der Argumente von außen scheint ein kleines Indiz zu sein - vielleicht auch symptomatisch für das ganze Land.