Schweigen, wenn Freunde foltern?
Neue Folterbilder - diesmal tragen die Folterknechte zur Abwechslung russische Uniformen
"Seit Anfang 2000 wissen Militärs, Geheimdienst und Staatsanwaltschaft, dass es keinen Sieg geben wird. Sie verrichten dort im Kaukasus ihren Dienst, machen Karriere und verdienen Geld. Es gibt vernünftig denkende Menschen unter ihnen. Sie verstehen, dass die ständigen Anti-Terror-Operationen nur noch mehr Terror provozieren." Anna Politkowskaja
Anna Politkowskaja, die mutige Journalistin, hat wieder zugeschlagen. Mehrfach schon mit Mord bedroht und mit Schreibverboten belegt, macht sie erneut auf die verheerende Lage der Menschen in Tschetschenien aufmerksam. Vielleicht diesmal mit mehr Erfolg. Denn nach den Bildern von Folter im Irak kann Politkowskaja nun Folter, unmenschliche Behandlungen und Totschlag in Tschetschenien in einem Video, datiert auf den 21. März 2000, ebenso mediengerecht nachweisen.
Ein 22-jähriger russischer Unteroffizier hatte den Film damals gedreht und nun nach Jahren schwerer Gewissensqualen und Depressionen der kritischen Journalistin zugespielt. Ausgemergelte Gestalten, zum Teil schwer verwundet, mit offenen Knochenbrüchen und anderen sichtbaren Verletzungen werden aus LKWs, auf denen sie auf engstem Raum übereinander oder wie in einem LKW in kleinsten Tierkäfigen zusammengepfercht waren, ausgeladen, herausgejagt und offenbar bereits tot oder dem Tode nah hinausgeworfen. Viele der Gefangenen sind unbekleidet. Sofern noch lebendig dürfen sie sich zum Spaß ihrer Bewacher aus einem Berg verschmutzter Klamotten ihre oder passende Sachen unter Beschimpfungen, Spott und Hohn heraussuchen. Verletzte werden mit Fußtritten und Knüppelschlägen behandelt, Leichen mit Tritten geschändet.
Die LKWs tragen des Logo der Spezialeinheiten des russischen Justizministeriums. Viele der beteiligten Folterknechte blicken lachend und stolz auf ihre Arbeit in die Kamera. Die meisten der aufgenommenen Gefangenen sind nach Recherchen von Anna Politkowskaja nach der Verladung verschwunden und dürften eines der vielen Massengräber auf tschetschenischem Boden füllen. Verantwortung trägt die Kremlführung selbst, die auch einen Monat nach ersten Veröffentlichungen von Bildern aus dem Video noch immer nicht einmal eine Untersuchung gegen die beteiligten Kommandeure eingeleitet hat.
Geändert hat sich offenbar seit 2000 wenig oder nichts im Vorgehen der russischen "Sicherheitskräfte" in Tschetschenien. So berichtete die Moskauer deutsche Zeitung am 30. April 2004:
Naurskaja, Nordtschetschenien, 18. März, zwei Uhr morgens: Maskierte Männer in Uniform stürmen das Haus der Familie Chambulatow und nehmen den 24-jährigen Sohn Timur fest. Die nächtlichen Eindringlinge identifizieren sich als Angehörige des russischen Sicherheitsdienstes FSB, sie wollen Timur angeblich wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu einer illegalen bewaffneten Organisation zur Polizei bringen. Timur stirbt noch am gleichen Tag in Polizeihaft. Videoaufnahmen von seiner Leiche, die "Memorial" von Verwandten des Toten erhält, zeigen eindeutige Folterspuren.
Oder ebenda:
Am 25. März gegen halb elf Uhr abends nimmt ein russischer Militärhubschrauber einen Pkw unter Beschuss, der am Ufer eines Flusses abgestellt ist. Als die vier Insassen des Pkws fliehen, werden sie von der Hubschrauberbesatzung beschossen. Der 21-jährige Musa Khankhoev stirbt sofort, der 16-jährige Ibragim Chaschagulgov erliegt später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der Zustand des dritten Opfers, ebenfalls ein Teenager, ist kritisch, über den vierten Betroffenen ist nichts bekannt.
Es muss der Frage nachgegangen werden, warum deutsche Medien unterschiedlichster Couleur, auch nicht durch die Berichte aus dem Irak motiviert, ähnliche Vorfälle in Tschetschenien totschweigen oder einfach nicht beachten. Als die Männerfreunde Kohl und Jelzin regierten, war schon recht wenig zu hören, doch nun, bei den Männerfreunden Schröder und Putin verstummt fast jede Kritik auch aus den rotgrünen Regierungsfraktionen am Vorgehen der "Freunde" in Tschetschenien. Ist die Abhängigkeit vom Energielieferanten Russland inzwischen so groß, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, wo man gerade glaubt Freiheit und Menschenrechte verteidigen zu müssen und wo nicht?
Für manche Meldungen muss man als Deutscher schon die Presse in Großbritannien oder Polen zu Hilfe nehmen, um überhaupt Fakten aus Tschetschenien zu erhalten. So berichtete der "Guardian" am 10. Mai 2004 über einen Prozess gegen 4 russische Offiziere. Diese hatten in Südtschetschenien vor 2 Jahren das Feuer auf ein Fahrzeug eröffnet. Als sie realisierten, dass das Fahrzeug nicht von Terroristen, sondern nur von 6 Zivilisten - Dorfschullehrer, ein Bauer und eine Mutter von 7 Kindern - besetzt war, erschossen die Soldaten die 5 Überlebenden und zündeten das Fahrzeug an, um vorzutäuschen, es sei auf eine Landmine gefahren. Eine Wunder, dass es überhaupt zu einem Prozess kam, es war der zweite Prozess gegen russisches Militär in zehn Jahren Tschetschenienkonflikt. Doch der Ausgang war klar, die vier geständigen Offiziere wurden freigesprochen.
Fast heimlich auf leisen Sohlen haben die Vertreter der OSZE in Tschetschenien schon Ende 2002 ihren Beobachtungsposten geräumt. Mit dem Abzug der Repräsentanten der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit" aus dem kaukasischen Krisengebiet ging ein trauriges Kapitel Kooperation zwischen der Behörde in Wien und Russland zu Ende. Die internationale Gemeinschaft ignoriert seither weitgehend das politische Pulverfass im Kaukasus. Putin verkauft offenbar seinen Beitrag im angeblichen "Kampf gegen den Terrorismus" bestens. Erst im April 2004 stimmte die UN-Menschenrechtskommission über eine von der EU unterstützte Resolution ab, die Moskaus Tschetschenienpolitik verurteilen sollte. Ergebnis: Die von europäischen Staaten eingebrachte Resolution wurde von der Kommission zurückgewiesen. Aber es fehlte auch jeder Nachdruck seitens der EU-Vertreter.
Ob das Video jetzt doch ähnliche Schlagzeilen macht und Politiker auf den Plan ruft wie entsprechende Dokumente aus dem Irak?
Anna Politkowskaja schreibt unbeirrt weiter für die unabhängige Moskauer Tageszeitung Nowaja Gaseta . Sie ist Korrespondentin in Tschetschenien und schuf sich mit dieser Arbeit einige Feinde.
Ich bin überzeugt von dem, was ich tue. Damit bin ich im Einklang mit mir selbst.
Die gebürtige Moskauerin erzählt in ihren Reportagen vom Leiden der Zivilbevölkerung im Tschetschenienkrieg. Sie berichtet vom Elend der Flüchtlinge, den berüchtigten Säuberungen "Tschistki", bei denen Menschen verschwinden, von Vergewaltigungen, Folter und Hinrichtungen. All dies hat sie mit eigenen Augen gesehen und teilweise am eigenen Leib erfahren müssen. Anna Politkowskaja lernte das Handwerk der Journalistin an der Moskauer Lomonossow Universität. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst bei der Fachzeitschrift "Luftverkehr". Später wechselte die heute 45-Jährige zu der legendären Perestroika-Zeitung "Obschtschaja Gaseta", die im vergangenen Jahr eingestellt wurde.