Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären
Seite 3: Homosexualität als Identität
Bei (3) denke ich zum Beispiel an die jährliche Amsterdamer Gay Pride. Ich ging einmal auf so eine Parade und sah auf den bunt geschmückten Booten die dem Kölner Karneval in nichts nachstehen unzählige Muskelmänner (aber auch Frauen) in Badehöschen ihre Körper und Community zelebrieren.
Das ist persönlich zwar nicht so mein Geschmack. Ich finde es aber gut, dass es das gibt. Nach all der Unterdrückung möchten lesbische, schwule, bisexuelle und wie auch immer orientierte Menschen mit allem Stolz zeigen, dass sie auch da sind, dass sie viele sind und dass sie sich in der Gesellschaft ihren Raum nehmen.
Der wichtige Punkt für unser Thema ist nun: Nicht jeder, der sich zu Menschen vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt und/oder mit ihnen ins Bett geht, muss das als wesentlichen Teil seiner Identität ansehen. Es handelt sich psychologisch und kulturell also um verschiedene Dinge. Ich könnte beispielsweise Männer sexuell anziehend finden, doch trotzdem die Identität, wie sie manche Schwule in der Öffentlichkeit ausleben, als "nicht mein Fall" ansehen.
Nützlicher Geschlechtsvekehr
Es ist aber auch vorstellbar, dass jemand, der Menschen eines bestimmten Geschlechts nicht sexuell anziehend findet, trotzdem mit solchen Menschen Geschlechtsverkehr hat. Wie wir seit Jahrzehnten aus der klinischen Psychologie wissen, kann Sexualität genauso wie Arbeit, Essen, Genussmittel- oder Drogenkonsum, Spielen, Sport und vieles andere mehr eine Bewältigungsstrategie dafür sein, wie wir durchs Leben kommen (Buchtipp: "Andere Wege gehen: Lebensmuster verstehen und verändern" von Jacob, van Genderen und Seebauer). Oder aber jemand hat in der Umgebung schlicht keine Menschen vom anderen Geschlecht, will aber trotzdem gerne sexuellen Kontakt, denken wir an die Armee, Gefängnisse oder Klostergemeinschaften.
Folgerichtig sprechen die Autoren der neuen Studie dann auch nicht von Homo- oder Bisexualität. Es wird interessant sein zu beobachten, ob die Medien, die darüber berichten, sich daran halten werden. In der Publikation ist lediglich von "heterosexuell" gegenüber "nicht-heterosexuell" in die Rede.
Letzteres wirkt allerdings etwas gekünstelt, wo es um Personen geht, die vielleicht nur einen einzigen gleichgeschlechtlichen Kontakt in ihrem Leben gehabt haben. Dürfte man sich etwa auch nie wieder Vegetarier nennen, nur weil man einmal Fleisch auf dem Teller hatte? Irgendwie müssen die Forscher das untersuchte Phänomen aber benennen.
Zu den Effektgrößen
Mit diesem Vorwissen können wir uns jetzt etwas genauer mit den Daten beschäftigen. Nun ist es so, dass für den zuvor genannten Genort rs347…, der nur bei den Männern statistisch signifikant mit dem Sexualverhalten in Zusammenhang stand, nicht-heterosexuelles Verhalten um 0,4 Prozent häufiger vorkam, wenn ein bestimmtes Genmerkmal vorlag.
Oder formulieren wir es anders: Diejenigen, die hier den Genotyp TT (also zweimal die Base Thymin) haben, hatten in 3,6 Prozent der Fälle angegeben, mindestens einen nicht-heterosexuellen Kontakt gehabt zu haben. Beim Genotyp GT (Guanin/Thymin) waren es 4,0 Prozent.
Mit meiner Forscherintuition gehe ich nun davon aus, dass die Autoren hier eher ihre besseren Funde hervorheben, die Unterschiede für die anderen vier Orte also wahrscheinlich eher kleiner sind. Solche kleinen Effekte werden eben statistisch signifikant, wenn die untersuchte Gruppe groß genug ist. Das ist Mathematik.
Keine individuelle Vorhersage
Die Wissenschaftler berichten zwar, dass sie bei Kombination aller Merkmale acht bis 25 Prozent der Unterschiede im Sexualverhalten erklären können. Das ist aber erstens eine Schätzung, zweitens eine große Spannweite, drittens selbst im Optimalfall nicht die Welt und viertens, das wissen oder verstehen leider auch viele Mediziner nicht, kein Maß für die Stärke der genetischen Determination, da diese Schätzung selbst von der konkreten Umwelt abhängt, in der die Daten erhoben wurden.
Seriöserweise räumen die Forscher dann auch ein, aufgrund ihrer Ergebnisse niemals vom Genom auf das Sexualverhalten einer Einzelperson schließen zu können. Doch auch die Erklärung des Mechanismus, mit dem die Genorte in Verbindung stehen, ist eher holprig. Dafür heben die Autoren die beiden Funde hervor, die nur bei den Männern statistisch signifikant waren.