Selbstbeherrschung als staatliches Machtinstrument
- Selbstbeherrschung als staatliches Machtinstrument
- Wissenschaft und Ökonomie dominieren alle Aspekte unseres Daseins
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Die neue Dynamik in der Biopolitik
Den Begriff Biopolitik prägte der französische Denker Michel Foucault. In einem seiner Bücher analysiert er, wie im Zuge der Industrialisierung der "menschliche Körper im Wesentlichen zur Produktivkraft" geworden ist. Gleichzeitig sind "sämtliche Formen der Verschwendung" von Lebensenergie – Foucault meint hier Sexualität und Wahnsinn –, sowie alle Lebensweisen, die nicht der Produktivität dienen, und "daher in ihrer Nutzlosigkeit in Erscheinung" treten, "verbannt, ausgeschlossen und unterdrückt worden".1
Wir blicken heute auf einen Großteil dieser Entwicklung bereits zurück. Sie ist verbunden mit dem Aufstieg und der Einflussnahme der Mediziner während des 19. Jahrhunderts.2 Publikationen zur Hygiene, zur Kunst der Lebensverlängerung und Verfahren zur Verbesserung der menschlichen Nachkommen nehmen schon seit Ende des 18. Jahrhunderts stetig zu.
Die wachsende Bedeutung von Wissenschaftlichkeit bringt einen Deutungswandel mit sich. Was bisher gestützt durch die Kirche in den Kategorien des Moralischen oder Dämonischen gesellschaftlich geächtet wurde (bestimmtes Verhalten von Frauen, Perversion und Behinderung), findet jetzt seine Beherrschung durch neue Technologien: etwa die Medizinierung der Sexualität der Frau, die Psychiatrisierung der sogenannten Perversionen und die Programme der Eugenik.
Die entsprechenden theologischen Begründungen für Aussonderung und Stigmatisierung werden spätestens seit dem 19. Jahrhundert von therapeutischen abgelöst.
Nachdem historisch die Frage des reinen Überlebens in den Hintergrund getreten ist, werden Gesundheit und ihre Funktionsbedingungen in den Blick genommen. Darin spiegelt sich eine Aufwertung des menschlichen Körpers, die ihren soziologischen Ort innerhalb des Bürgertums hat.
Diese Hinwendung zur körperlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit fällt zusammen mit der Etablierung der bürgerlichen Vorherrschaft in der Gesellschaft.
Es sieht so aus, als seien die vom Adel verwendeten Verfahren zur Markierung und Wahrung des Standesunterschiedes übernommen und in andere Formen übersetzt worden: hatte die Aristokratie ihre Eigenart in Form des "Blutes" behauptet, so definiert sich jetzt das Bürgertum von seiner körperlichen Gesundheit her – geschützt durch selbst gegebene biologische, medizinische und später auch eugenische Vorschriften, gestützt also auf Wissenschaft.
Optimierung des Lebens: Hygiene- und Ernährungsregeln bis Eugenik
Zeitgleich werden die biologischen Prozesse wie Fortpflanzung, Geburt, Sterben, Gesundheit und Lebensdauer zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen. Eine sorgfältige Verwaltung der Körper und rechnerische Planung des Lebens beginnt unter der Prämisse der Verantwortung für das Leben und der Regie der Wissenschaftszweige Demografie und Medizin.
Mit dieser wissenschaftlich begleiteten Wertsteigerung des Körpers konstituiert sich eine politische Disposition des Lebens.
Eine Biopolitik der Bevölkerung etabliert sich. Über die Denkfigur der "Verantwortung für das Leben" verschafft sie sich den Zugang zum Körper.3
Diese Anpassung menschlichen Lebens an eine vorgegebene Norm bildet die Basis der Entwicklung einer neuen Machtform, der sogenannten Bio-Macht. Sie basiert auf Freiwilligkeit, auf der Einsicht der Bürger:innen in die wissenschaftlich fundierten Zusammenhänge der Optimierung des Lebens.
Der aus der Ökonomie übernommene Gedanke etabliert sich, dass fortlaufend regulierend und korrigierend in das Leben und seine Bedingungen eingegriffen werden muss, um es abzusichern und in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren.
Durch ein System von Qualifizieren, Messen, Abschätzen und Abstufen, das inzwischen schon vorgeburtlich einsetzt, werden die Menschen auf eine Norm hin ausgerichtet. Diese Norm wiederum orientiert sich an den gesellschaftlichen Bedingungen, in erster Linie an den ökonomischen Notwendigkeiten.
Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie.4
Deren höchste Funktion ist die vollständige Durchsetzung eines Lebens unter der Kontrolle von staatlichen Funktionären. Die Dominanz der Medizin spielt dabei eine zentrale Rolle und kann seit Langem auf staatliche Strukturen zurückgreifen.
So reguliert sie den Arbeitsmarkt durch Krank- bzw. Gesundschreibungen, durch Anerkennen oder Verwerfen von Berufskrankheiten, durch Genehmigen oder Ablehnen von Rehamaßnahmen und Therapien.
Fortlaufend kontrolliert sie die körperliche Verfassung der Bevölkerung vom Mutterleib bis zum Tod, etwa durch:
- pränatale Diagnostik und Reproduktionsmedizin;
- standardisierte Vorsorgeuntersuchungen der Kinder;
- Impfpflicht vor Besuch einer Kita;
- Einschulungsuntersuchungen;
- Entscheidung über Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen;
- Vorsorgeuntersuchungen und Früherkennung;
- Feststellen von Behinderung;
- Vergeben von Pflegegraden;
- Ausstellen des Totenscheins.
Konsequente Erhaltung der Gesundheit, Selbstoptimierung und Lebensverlängerung gehören zum gesellschaftlichen Konsens und stehen unter der Regie der Medizin, die sich durch Privatisierungen im Gesundheitswesen und von Krankenhäusern immer stärker und grundsätzlicher mit der Ökonomie verbunden hat.
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