"Selenski ist nicht unser Präsident"
In Kiew demonstrierten hunderte Anhänger der Partei des Investigativ-Bloggers Anatoli Schari. Sie forderten ein Ende der Angriffe von Rechtsradikalen auf Journalisten und Andersdenkende
Wenn in den letzten Jahren über Demonstrationen und Aktionen aus Kiew berichtet wurde, dann sah man meistens Märsche von Nationalisten in Militärklamotten oder Protestaktionen, organisiert vom ehemaligen Gouverneur von Odessa, Michail Saakaschwili. Doch am Mittwoch war es anders. Dem Ukrainer Anatoli Schari, der seit 2012 im westlichen Ausland lebt und von dort einen kritischen Video-Blog mit 2,3 Millionen Abonnenten betreibt, war es gelungen, hunderte Demokraten auf die Straße zu bringen. Sie demonstrierten unter der Parole "Dies ist nicht mein Präsident".
An der Protestaktion vor dem Amtssitz des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski beteiligten sich vor allem junge Menschen um die 30. Sie kamen mit Bussen aus verschiedenen Städten der Ukraine. Organisiert hatte die Aktion die "Partei Schari", eine vor einem Jahr von dem ukrainischen Investigativ-Blogger Anatoli Schari gegründete Organisation.
"Wowa, komm raus!"
Wie viele Menschen sich genau an der Aktion beteiligt haben, ist schwer zu sagen. Nach Angaben der Polizei waren es 500 Personen. Nach Angaben von Oppositionellen waren es 700 bis 2.000. Die Demonstranten riefen "Wowa, komm raus!" Aber der Präsident zeigte sich nicht. Die Demonstranten wollten mit Selenski über Angriffe von Rechtsradikalen auf Journalisten sprechen.
Überraschend hatte auch der ehemalige ukrainische Ministerpräsident Nikolai Asarow, der seit 2014 in Moskau im Exil lebt, seine Anhänger via Internet aufgerufen, sich an der Schari-Demonstration zu beteiligen.
Die Demonstrations-Teilnehmer trugen rote T-Shirts. Außerdem trugen sie ukrainische und rote Fahnen mit einem weißen Zitat-Symbol. Kritische ukrainische Medien berichteten ausführlich über die Aktion. Im ukrainischen Fernsehkanal ZIK kam der Video-Blogger Schari nach der Aktion ausführlich zu Wort.
Polizisten schützte die Protestaktion
Erstaunlich war, dass die Polizei rechte Schläger, die sich in nicht allzu großer Zahl - zum Teil als Mediziner - verkleidet einfanden, um die Versammelten anzugreifen, von der Polizei mit Gewalt zurückgehalten wurden. Als die Polizisten 15 rechte Schläger festnahmen, riefen die Demonstranten begeistert "Molodzi" (Prachtkerle). Nach der Kundgebung kam es in der Kiewer U-Bahn zu einer Schlägerei zwischen Schari-Anhängern und einzelnen Rechtsradikalen, die aber den Kürzeren zogen.
Rechtsradikale aus der ostukrainischen Stadt Charkow kündigten in einem Video eine Ukraine-weite "Safari" gegen Mitglieder der Partei Schari an. Laut dem Telegramm-Kanal "Klymenko Time" erklärte ein Sprecher der Rechten: "Ihr habt noch mal Glück gehabt. Wir werden euch persönlich treffen und wir werden das Problem auf jeden Fall lösen."
Beobachter vermuten, dass es für Selenski zur Zeit günstig ist, wenn er sich als ruhiger Pol der Mitte zwischen Rechten und Linken, die nur "einen neuen Maidan" und "Unruhe" wollen, präsentieren kann. Am 25. Oktober sind in der Ukraine Kommunalwahlen. Selenski muss sehen, dass seine Partei "Diener des Volkes" nicht massiv Stimmen verliert, denn viele seiner Versprechen hat der Präsident nicht erfüllt.
Was will die Partei Schari?
Die Partei Schari wurde vom Justizministerium im Juni 2019 registriert. Parteigründer Schari will auch persönlich bei Wahlen in der Ukraine kandidieren. Von den ukrainischen Gerichten wurde das aber bisher nicht zugelassen. Die Begründung ist, der Blogger habe die Ukraine 2012 verlassen.
Zu den Kommunalwahlen am 25. Oktober 2020 will die Partei Schari antreten. Nach einer Ermittlung des Kiewer Instituts für Soziologie liegt das Rating der Partei bei fünf Prozent und damit weit über den offen rechtsextremen Kleinparteien.
Auf der Partei-Website ist angegeben, dass sich 226.000 Ukrainer der "Mannschaft Schari" zugehörig fühlen. Wie die Partei sich finanziert, ist unklar. Über das Internet sammelt die Organisation Geld und hat Erkennungssymbole und Hashtags vorgestellt.
Die Erkennungsfarbe der Partei ist rot-weiß. Man verzichtet auf ideologische Parolen. Die Kernbotschaft von Parteigründer Schari lässt sich so zusammenfassen: Gegen selbstherrliche und autoritäre Präsidenten, gegen Krieg, Korruption, Russophobie und Antisemitismus, für eine demokratische Ukraine. Auffällig ist, dass die Partei bisher nur in der Zentral-, Süd- und Ostukraine Vertretungen hat, nicht aber in den acht westukrainischen Regionen.
Bekannt wurde der Blogger Schari durch Videos über Skandale
Dass Petro Poroschenko bei der Präsidentschaftswahl im April 2019 nur 24 Prozent der Stimmen bekam, rechnet sich Schari als persönlichen Erfolg an. Unerbittlich hat er seit 2014 in seinen Videos die Skandale dokumentiert, in die der damalige ukrainische Präsident Poroschenko verwickelt war.
In den Videos ging es um die Aufträge, die das ukrainische Verteidigungsministerium an Poroschenko-Rüstungsfirmen vergab. Es ging auch darum, wie Poroschenkos Schokoladenfirma Roschen ihre Gewinne in Offshore-Zonen vor der ukrainischen Steuerbehörde versteckte.
Wie starben die Helden des Maidan?
Zusammen mit Jelena Lukasch - bis zum Februar 2014 ukrainische Justizministerin - deckten Schari und sein Team auf, dass viele der angeblich im Februar 2014 auf dem Maidan von Berkut-Polizisten erschossenen Maidan-Demonstranten, die seit 2014 als "Himmlische Hundertschaft" zu Nationalhelden der Ukraine verklärt wurden, durch das Verschulden der Maidan-Kämpfer selbst zu Tode kamen und nicht - wie von der Macht in Kiew und westlichen Medien behauptet - von Berkut-Polizisten erschossen wurden.
Video über die Explosion im Gewerkschaftshaus von Kiew
Im Dezember 2019 zeigte Schari auf seinem Kanal ein Video, welches von einem Agenten des ukrainischen Geheimdienstes SBU im Kiewer Gewerkschaftshaus - vermutlich im Februar 2014 - aufgenommen wurde, bevor das Gewerkschaftshaus am 19. Februar 2014 von der Spezialeinheit Alfa gestürmt wurde und fast vollständig ausbrannte.
In dem von Schari veröffentlichten Video ist zu sehen (ab Minute 7:22), dass Maidan-Kämpfer im Gewerkschaftshaus ein Chemielabor betrieben. Nach Meinung des Bloggers wurden dort Molotow-Cocktails und Sprengsätze hergestellt, die auf dem Maidan gezündet werden sollten. Der Blogger schließt nicht aus, dass auf das Chemielabor mit einem eingeschmuggelten Paket, welches angeblich medizinische Hilfe enthielt, ein Anschlag verübt wurde.
In seinem Video erzählt Schari, die Video-Aufnahmen des SBU-Agenten seien Vertretern der Botschaften von Deutschland, Frankreich und Polen noch vor dem Sturm auf das Gebäude gezeigt worden. Die Botschaftsmitarbeiter hätten den Aufnahmen aber nicht geglaubt. Sie hätten das Gebäude dann besucht. Der Blogger vermutet, dass die Vertreter der Botschaften bei dem Besuch auch das Chemielabor gesehen haben. Belegen kann der Blogger diese Behauptung aber nicht.
Video über den Tod eines Swoboda-Abgeordneten
In einem Video vom November 2019 untersuchte der Blogger Schari einen weiteren Fall eines "Maidan-Helden", der zu Tode gekommen war. Es ging um den Tod von Sergej Didytsch, ein Abgeordneter der rechtsradikalen Partei Swoboda aus dem westukrainischen Iwano-Frankiwsk. Didytsch starb am 18. Februar 2014 an der Explosion einer Granate, hatten Maidan-freundliche Medien damals berichtet.
Die ukrainische Justiz verurteilte später den Berkut-Polizisten Andrej Efimin, der Didytsch angeblich bei den Auseinandersetzungen im Zentrum von Kiew mit seinem Schlagstock geschlagen hat, worauf Didytsch stürzte.
Doch ein von Schari präsentiertes Video belegt (ab Minute 7:21 ) die Behauptung nicht, dass der Swoboda-Abgeordnete durch den Schlag eines Polizisten starb. Das Video zeigt, dass der Schlag des Berkut-Polizisten den Swoboda-Mann Didytsch verfehlte. Man sieht, dass der Abgeordnete stürzte, weil er von einem Lastwagen erfasst wurde. Der Lastwagen wurde laut Untersuchungsbericht der Ermittlungsbehörde von dem Maidan-Kämpfer Leonid Bibik gesteuert. Aus dem Ermittlungsbericht geht hervor, dass Bibik, der den Lastwagen zusammen mit anderen Maidan-Kämpfern von der Polizei erobert hatte, mit hoher Geschwindigkeit gezielt auf Polizisten zufuhr, um sie umzufahren. Bei dieser brutalen Aktion wurde auch der Maidan-Kämpfer Didytsch getötet.
Doch für den Tod des Swoboda-Abgeordneten Didytsch machte die ukrainische Justiz nicht den Fahrer des geenterten Polizei-Lastwagens, sondern den Berkut-Polizisten Andrej Efimin verantwortlich, der auf Bewährung frei kam, weil er seine "Schuld" eingestand.
Ukrainischer Konsul in Hamburg war Hitler-Fan
Als Schari im Mai 2018 aufdeckte, dass im ukrainischen Generalkonsulat in Hamburg ein Konsul mit Sympathien für Hitler sitzt, wurde der Blogger auch international bekannt. Schari war als "Freund" auf die Facebook-Seite von Konsul Wassyl Maruschtschinez gelangt und hatte dort zahlreiche Fotos und Äußerungen vorgefunden, die belegten, dass der Konsul ein Antisemit und Anhänger Adolf Hitlers ist. Der ukrainische Außenminister Pawel Klimko war gezwungen, Maruschtschinez sofort aus dem Dienst zu entlassen.
Wie es in der Ukraine weitergeht ist ungewiss. Ob es den nicht-nationalistischen Parteien und Oppositionellen gelingen wird, den vergrößerten Bewegungsspielraum, den es seit dem Amtsantritt von Selenski gibt, weiter zu nutzen und stärker zu werden, oder ob der Geheimdienst und das Innenministerium die Rechtsradikalen einsetzen wird, um eine Stärkung der Opposition zu verhindern, ist noch offen.