Seltene Selbstanzeige

Die "New York Times" kritisiert ihre eigene Berichterstattung im Umfeld des Irak-Krieges

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Als die Leser der New York Times am Mittwoch ihre Zeitung aufschlugen, mag der eine oder andere seinen Augen nicht getraut haben. Denn der Leitartikel mit der unscheinbaren Überschrift The Times and Iraq enthielt Bekenntnisse seltener Art. Es sei an der Zeit, so ließ das Blatt verlauten, nach Hunderten von Artikeln, die im Umkreis des Irak-Krieges veröffentlicht wurden, nun die eigene Berichterstattung kritisch und unvoreingenommen zu überprüfen.

Das Ergebnis förderte zunächst wenig Überraschendes zutage, denn die Selbstanalyse fand natürlich "eine enorme Menge journalistischer Beiträge, auf die wir stolz sind." Doch es gab offensichtlich auch andere:

Wir sind aber auch auf Recherchen gestoßen, die nicht so streng durchgeführt wurden, wie dies hätte sein sollen. In manchen Fällen wurden Informationen, die damals kontrovers erschienen, und heute fragwürdig sind, nicht ausreichend qualifiziert und ohne weitere Recherche übernommen. Rückblickend wünschten wir, das wir manche Behauptungen aggressiver überprüft hätten, wenn neue Beweise auftauchten oder ausblieben.

Die "New York Times" bedauert insbesondere, sich auf irakische Informanten, Regierungsgegner und Exilanten verlassen zu haben, deren Glaubwürdigkeit in den letzten Tagen und Wochen nachhaltig erschüttert worden sei. Prominentestes Beispiel ist der mittlerweile ins Spionagezwielicht geratene Ahmad Tschalabi, der Vorsitzende des Irakischen Nationalkongresses, der die Zeitung seit 1991 mit Informationen aus Exilkreisen versorgt habe und dann zu einem Favoriten der "Hard-Liner" innerhalb der Bush-Administration geworden sei. Seit letzter Woche stehe Tschalabi nun nicht mehr auf der Gehaltliste (Das Ende des Dunkelmeisters).

Der "Times" geht es gleichwohl nicht so sehr um einzelne Personen. Die Selbstanzeige gilt eher den diffusen Bedrohungsszenarien, die über Wochen und Monate ohne nachweisbare Grundlage entwickelt wurden. Ende 2001 zitierte die Zeitung einen Ingenieur, der höchstpersönlich in geheimen Anlagen zur Herstellung biologischer, chemischer und nuklearer Waffen gearbeitet haben wollte. Im September 2002 suggerierte ein Artikel, dass Saddam Hussein verstärkte Anstrengungen unternehme, um in den Besitz einer Atombombe zu kommen, und noch im April 2003 verbreitete die "Times" die Behauptung eines irakischen Wissenschaftlers, chemische und biologische Waffen seien erst kurz vor Kriegsbeginn zerstört worden, der Irak habe Waffen nach Syrien transportiert und arbeite überdies noch mit al-Qaida zusammen. An dieser höchst zweifelhaften journalistischen Praxis, die in Zukunft übrigens aufgegeben werden soll, seien nicht nur Informanten und Reporter vor Ort, sondern auch die heimischen Redakteure beteiligt gewesen, die - anstatt skeptisch auf Gegenprüfung und weitere Recherchen zu drängen - vielleicht zu begierig waren, "scoops" in ihre Rubrik zu bringen.

Noch interessanter als der Leitartikel selbst ist freilich die Frage nach den Gründen seiner Entstehung und Veröffentlichung. Der "New York Times", die ohnehin nicht als übertrieben Bush-freundlich gilt, wird das freimütige Bekenntnis kaum schaden, zumal die meisten Artikel, die der unsauberen Recherche bezichtigt werden, in die Amtszeit des mittlerweile zurückgetretenen Chefredakteurs Howell Raines fallen. Aber könnte die Selbstkritik - nicht gerade ein häufiges Phänomen in den Medien - ein landesweites Umdenken initiieren, das die nach dem 11. September um die Bush-Regierung aufgebaute Medienfront endgültig zusammenstürzen lässt?

Spiegel Online spricht lediglich von einem "bemerkenswerten Leitartikel", was in etwa der Formulierung unusual critique der San Jose Mercury News entspricht oder allenfalls an extraordinary mea culpa darstellt, wie der Guardian vermutet. Die FAZ geht in einer Stellungnahme davon aus, dass der Vorstoß der "Times" nur interne Folgen zeitigen wird:

Schwerwiegender wäre es, entschlösse sich ein Bush-freundliches Medium wie der Nachrichtenkanal 'Fox News' dazu, dem Beispiel der Zeitung zu folgen; das aber ist kaum zu erwarten. Auswirken wird sich die schonungslose Selbstkritik der ŽTimesŽ schon eher auf die Zeitung selbst. Deren Mitarbeiter dürften sich nun noch stärker ins Zeug legen, kein falsches Wort zu schreiben, als vorher. Wer damit rechnen muß, irgendwann von dem eigenen Arbeitgeber solcherart an den Pranger gestellt zu werden, der wird über jeden Satz sicher dreimal nachdenken.

Der Sender al-Dschasira sieht das naturgemäß ein wenig anders. Der Artikel des arabischen Nachrichtensenders gibt sich insgesamt zurückhaltend, beginnt allerdings mit der aufwendigen Überschrift "US paper apologises for false Iraq reports" und notiert am Ende: "The New York Times is the US' third largest circulation newspaper behind USA Today and the Wall Street Journal." Wohingegen bei Fox News lediglich die AP-Meldung zu lesen ist, die in ganz Amerika verbreitet und von vielen Presseorganen kommentarlos übernommen wird.

Insgesamt nehmen die Print- und Onlinemedien die Medienschelte aus den eigenen Reihen überraschend gelassen auf. In Deutschland gab sich am Mittwochabend kaum jemand so angriffslustig wie "Die Welt", in der Uwe Schmitt einigen Kolleginnen und Kollegen aus den USA und Großbritannien folgte und postwendend behauptete, dass die plötzliche Distanz zu Ahmad Tschalabi einzig und allein dem Zweck diene, "ihre Reporterin Judith Miller aus der Schusslinie zu nehmen, die offenkundig bis vor kurzem die Verbindungsoffizierin war. Die allseits um ihre Kontakte beneidete Autorin eines Bestsellers über Massenvernichtungswaffen mehrte vor und während des Irak-Kriegs ihre Umsätze als Stammexpertin bei CNN. Unbestreitbar ist, dass die meisten inkriminierten Artikel von ihr stammen."

Allerdings hatte Schmitt auch eine gute Erklärung für den erstaunlichen Umstand, dass die Selbstanklage der "New York Times" kein publizistisches Erdbeben auslöste:

Es wird in der Branche, wo der hochgestimmte, bisweilen herablassende Ton der 'Times'-Leitartikel Anstoß erregt, klammheimliche Freude geben. Kaum öffentlich. Keiner lebt außerhalb des Glashauses.

Trotzdem kann offenbar auch jemand, der selbst im Glashaus sitzt, gelegentlich mit Steinen werfen.