Sex, Körperfantasy und Emma Stone

Bild: © Searchlight Pictures

Yorgos Lanthimos Ideenfilm "Poor Things": Von der Hysterie zur sexuellen Befreiung – Die bessere Barbie?

Zwischen der Hochmoderne und der Postmoderne, zwischen den Schuhen von Van Gogh und den Schuhen von Andy Warhol, gibt es noch einige andere signifikante Unterschiede, auf die wir jetzt kurz eingehen müssen.

Der erste und offensichtlichste ist das Auftauchen einer neuen Art von Flachheit oder Tiefenlosigkeit, einer neuen Art von Oberflächlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, vielleicht das höchste formale Merkmal aller Postmodernen, auf das wir in einigen anderen Zusammenhängen zurückkommen werden.

Frederic Jameson, 1990

Alle Welt – nein, aber die US-amerikanische Filmszene und die europäische Kunstwelt sprechen von "Poor Things". Der Film gewann den Goldenen Löwen, er war der Überraschungssieger des Regiepreises der "Golden Globes", und ist spätestens jetzt ein heißer Favorit auf die Oscars.

Auf der Internet movie database, IMDb, bekommt er aktuell eine Durchschnittswertung von 8.4/10; beim US-Kritikerspiegel metacritic erreicht er 87/100.

Was also ist so gut an diesem Film? Oder: Ist er so gut? Oder anders: Wenn "Poor Things" die Antwort ist – wie lautet die Frage?

Überladener Ideenfilm

Luftschiffe kreisen am Himmel, die Welt ist bunt, überladen und kugelörmig – wozu der großzügige Einsatz des Fisheye-Effekts beiträgt. Ein retro-futuristisches Design in viktorianischer "Tonart", in dem Gothic, Steampunk und Science-Fiction à la Jules Verne aufeinandertreffen, mit einigen Details, die noch verdrehter sind, als bei Verne.

Dampfkutschen mit Pferdeköpfen aus Brettern als Dekoration, Seilbahnen, die als öffentliche Verkehrsmittel von London über Lissabon bis Paris dienen.

Dies ist ein Ideenfilm, überladen in jeder Hinsicht, aber auch ein überbordendes visuelles Fest, voller Einfallsreichtum und voller ungesehener Bilder–- was will man von Kino mehr erwarten?

Frau mit Hirn eines Babys

Vielleicht doch etwas Sinn und Tiefe. Diesmal ist es eine Zeitreise in ein fantastisches 19. Jahrhundert und in dessen so idealistischer wie materialistischer Wissenschaft, zu der der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos sein Publikum verführen will.

Poor Things (20 Bilder)

Bild: © Searchlight Pictures

Zu dieser Epoche gehört historisch auch die Psychoanalyse, und zu dieser gehört wiederum die Vorstellung, dass Frauen Hysterien entwickeln – heute gebraucht man diesen Begriff zwar nicht mehr und würde andere Worte finden, aber das Gleiche meinen: Bewusstseinsexzesse und anti-soziales Verhalten.

Im Zentrum steht ein Frau von Anfang Dreißig namens Bella Baxter. Ist Bella ein Mensch wie du und ich? Das muss fragen, wer den Lebenslauf dieser Frau gelesen hat. Baxter war schwanger, als sie sich im London des 19. Jahrhunderts aufgrund der Tyrannei ihres Mannes, des sadistischen Generals Alfie Blessington, von einer Themse-Brücke stürzte.

Hirntot geriet sie in die Hände eines verrückten Chirurgen, der ihrer Körperhülle das Gehirn des eigenen Fötus implantiert, um ihn dann mit elektrischer Energie wiederzubeleben.

Das Hirn wächst. So zeigt die erwachsene Frau infantile Reaktionen und einen unerschöpflichen Appetit auf die Geheimnisse der Welt und insbesondere des Geschlechtsverkehrs.

Voller Wunder und Fortschritt

Wann genau "Poor Things", die sehr freie Verfilmung eines Romans des hierzulande kaum bekannten schottischen postmodernen Schriftstellers Alasdair Gray, spielen soll, ist visuell nicht so klar. Manchmal glaubt man, es seien die Zwanziger Jahre oder ein diffuser deutscher Expressionismus, manchmal denkt man es wäre erst 1890. Es wird auch sehr bewusst keine Jahreszahl genannt.

Vielmehr geht es um ein abstraktes idealisiertes viktorianisches Zeitalter. Die Welt dieses Films wirkt so, wie sie am ehesten in den Kinderbüchern des 19 Jahrhunderts aussah. Wohlgeordnet und überladen, voller Wunder und Fortschritt.

Der Film strotzt zudem nur so von phantastischen Elementen, und wissenschaftlichen Möglichkeiten, die es tatsächlich damals nicht gab: allen voran Tier-Chimären, etwa einem Wesen mit Entenkopf auf einem Hundekörper.

Mensch-Chimäre

Im Zentrum stehen ein Wissenschaftler und seine Pflegetochter: Der Mann, ein Professor, heißt Godwin und nicht umsonst trägt er das Wort Gott in seinem Namen. Godwin ist aber auch der Mädchenname von Mary Shelley, der englischen Autorin, deren wichtigstes Werk "Frankenstein" ein Mythos der Moderne ist.

Und dieser Godwin ist so eine Art genial-verrücktes Update des Doktor Frankenstein, ein typischer Roman-Wissenschaftler – er ähnelt auch Rotwang, dem verrückten Wissenschaftler aus Fritz Langs "Metropolis", der in diesem Film an einem Maschinen-Menschen bastelt.

Auch Godwin hat eine junge Frau bei sich zu Haus, die er in einem gewissen Sinn gefangen hält, auf die er sich aber auch in seiner eigenen Weise sehr liebevoll kümmert – es ist kein sexuelles Verhältnis, eher eine Vater-Tochter-Beziehung.

Denn Godwin hat sie geschaffen: Erzeugt, zusammengeschnitten aus dem Leid einer hirntoten Mutter und dem Hirn ihres ungeborenen Kindes, das in ihr wie das kleinste Bild einer Matroschka-Puppe, als Box in der Box wächst und erwachsen wird. Offenbar musste ihr Godwin, um nach einem Selbstmord-Versuch ihr Leben zu retten, das Gehirn des Kindes einpflanzen.

Diese Frau heißt Bella, "die Schöne" – eine Projektion, die Autonomie gewinnen wird.

Bella fehlt also die persönliche Erinnerung, und ihr fehlen die Erziehung und alle anderen Formen der Anpassung an soziale Normen. Dadurch kommt es zu vielen Konflikten und Irritationen; mal sind sie lustig fürs Publikum, mal sind sie bizarr.

Wenn dies Feminismus ist, was für ein Feminismus ist es dann?

Insgesamt muss man dem Film vorhalten, dass er den Roman entpolitisiert, und seine politischen Ideen dem schnellen Lachen unterordnet. Grays Roman zeigt Bella als Vertreterin bestimmter epochenspezifischer Anliegen, vor allem des "Fabianismus" (vgl. Die Fabian Society) und der aufkommenden Geburtenkontrollbewegung, und verleiht ihr damit politisches Substanz.

In Lanthimos' Film dagegen wird Bellas Geschichte zur Reise der sich selbst verwirklichenden Frau, die verschiedene Strömungen des Lifestyle-Feminismus des 21. Jahrhunderts widerspiegeln soll – ein Ziel, das übrigens oft verfehlt wird.

Durch die ausgiebigen Sexszenen sollen sie zum neuen Symbol der "Sex-Positivität" herhalten.

Als Bellas Suche nach Wissen dann irgendwann über das Sinnliche hinausgeht, ist sie verwirrt über die hochtrabenden Texte, die sie nun konsumiert. Als sie einen Band von Emerson zur Seite legt, fragt sie laut:

"Warum spricht er nicht von Frauen? Vielleicht kennt er keine."

Mit solchen arglosen Dialogsätzen schmeichelt der Film all den zeitgenössischen Betrachterinnen, die noch immer gegen den "toten weißen männlichen" Kanon wettern.

Wenn dies Feminismus ist, was für ein Feminismus ist es dann? Bella spricht in Pidgin-English von sich in der dritten Person ("Bella want to look at world"), sie hat ein Babyhirn im Kopf, und der Behauptung von der angeblichen Patriarchatskritik des Films muss man kühl mit dem Hinweis antworten, dass das ganze Wesen schließlich nur das Geschöpf eines Mannes ist.