Sex, Körperfantasy und Emma Stone
Seite 2: Frankenstein, Pygmalion, Metropolis - und de Sade
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So wie das Kind im Frauenkörper schnell erwachsen wird, bricht auch Bella, durch Umstände die jetzt zu weit führen, irgendwann aus ihrem liebevollen aber eben doch Gefängnis, aus. Sie reist mit einem Liebhaber durch die damalige europäische Welt, zuerst nach Lissabon, dann nach Alexandria, dann nach Paris.
Sex und die Entdeckung des Sex sind sehr wichtig für diese Figur.
Und so gibt es neben "Frankenstein", "Pygmalion" und "Metropolis" und den Werken surrealistischer Filmemacher wie David Lynch noch eine weitere, offene Inspirationsquelle für diesen Film: Der Roman "Justine" des Marquis de Sade – die Odyssee eines unschuldigen Mädchens, das zum Basiswerk der Libertinage wurde.
Schon Lars von Trier ließ sich von diesem Text inspirieren. Bellas Geschichte ist nicht weniger monströs: Sie wird eingesperrt, dann gerät sie in die Gewalt eines zynischen Verführers, dann in ein Bordell, das für sie zum Ort der Befreiung wird.
Bella gelingt es, aus allem eine Lektion zu machen, und aufrichtige Freude daran zu empfinden, erwachsen zu werden, Erfahrungen zu machen, klüger zu werden, zu lernen, zu fühlen und zu lieben und Freunde zu finden.
Ein kleines bisschen pervers ...
Dies ist vor allem ein sehr bildkräftiger Film. Gleichzeitig sind diese Bilder immer auch ein kleines bisschen schräg, ein kleines bisschen pervers – man kann da an "The Favorite" denken, den letzten Film von Lanthimos: Auch das spielte ja nicht in einem echten 1720, sondern in einem übersteigerten.
So ist auch dieser Film: Ein Film, der eine Geschichte im Gewand des 19. Jahrhunderts erzählt, die auf manche Weise sehr modern ist und nur aus unserer Zeit, dem frühen 21. Jahrhundert oder vielleicht noch dem späten 20., der Postmoderne stammen könnte.
Dazu kommt das Affektierte vieler Filmmomente. Nehmen wir die Tanzszene. Schon berühmt, gern zitiert. Vergleichen wir sie mit der nicht minder berühmten Tanzszene in Godards "Bande Apart".
Wo ist der Unterschied? Lanthimos will etwas beweisen. Will repräsentieren, will wahnsinnig ungewöhnlich sein. Godard will gewöhnlich sein, alle mitnehmen, unser aller Empfindungen treffen.
Auch mit befreitem Kino hat dieser Film leider überhaupt nichts zu tun, dafür fehlt der Body-Horror, wo es doch so viel um Körper gehen soll.
Vor allem ist der Film gerade so provokativ, dass er den gebildeten Mainstream entzückt, aber nicht vor den Kopf stößt, dass dieser Mainstream sich als Kenner im Spiegel erkennen kann.
Brave Provokationen, ornamentaler Ästhetizismus
Die Provokationen von Lanthimos sind dabei überaus brav und entsprechen dem Zeitgeist. Lanthimos spielt mit Kitsch, dem Absurden, der halluzinierten Frankenstein-Fabel, dem Steampunk, dem Bildungsroman, der dadaistischen Erotik, der Groteske, der schwarzen Komödie und den Buñuelschen Gesellschaftsparodien. Er besinnt sich auf Einflüsse von Peter Greenaway und Michael Haneke, von Alejandro Jodorowsky, Terry Gilliam und David Lynch ...
"Poor Things" leidet an den gleichen Problemen wie Wes Andersons letztes Werk "Asteroid City", das ebenso frustrieren konnte, weil es in die Falle eines Formalismus ohne viel diskursives Leben tappte, abgesehen von einer gewissen Suche nach einem paradoxen Humanismus, kombiniert mit Distanz zu den Figuren und dem Erzählten, und einen ornamentalen Ästhetizismus.
Ein antihumanistisches Menschenbild
Irgendetwas überzeugt nicht ganz. Was, das ist schwer zu fassen. Mal möchte man den Film mögen, mal lässt er komplett kalt.
Lanthimos entfaltet ein antihumanistisches Menschenbild, das einerseits desillusioniert ist und zynisch, sich vom Menschen verabschieden will, also durch und durch postmodern: Menschen sind eigentlich nur andere Tiere. Und es gibt wenig Hoffnung, wenig Trost und Glücksmomente.
Andererseit ist dies eine wahnsinnig fortschrittsgläubige und idealistische Welt, wie es ja auch die Welt des 19. Jahrhunderts tatsächlich war. Und gerade die Hauptfigur, die junge Frau Bella ist tatsächlich eine wissenschaftsgläubige, idealistische Frau, die sehr optimistisch ist. Sie hat die Naivität eines großen Kindes, das viele erwachsener aussieht, als sie ist, das aber erwachsen wird im Lauf des Films.
Ein sehr aktueller Film
Man könnte das alles als eine perverse Coming-of-Age Geschichte bezeichnen. Wie die frankensteinische Monsterfigur hat sie einen naiven Begriff des Menschen. Bella glaubt an das Gute. Sie wird manchmal enttäuscht, aber durchaus nicht immer. Sie kennt auch gar keine Tabus. Sie nimmt gar keine gesellschaftliche Rücksicht. Insofern ist dies ein Film, der das Positive will.
Und auch ein sehr aktueller Film, weil Lanthimos in seiner antinaturalistischen Versuchsanordnung natürlich auch eine weibliche Empowerment-Geschichte erzählt, in der eine Frau sich aus dem Korsett des 19. Jahrhunderts in die Freiheiten befreit, die dann das 20. Jahrhundert den Frauen bot.
Dies ist auch wieder so ein Film, über den bald viele Seminararbeiten geschrieben werden - zu sehr triggert er die Reflexe des akademischen Mainstreams. Ein Film, der pure postmoderne Referenzanhäufung und Patchwork ist. Der kluge, intellektuelle Zuschauer voraussetzt, aber selbst immer noch ein bisschen klüger sein will als sein Publikum.
Die bessere Barbie
An seiner Hauptfigur zelebriert der Film die schöne Pippi-Langstrumpf-Freiheit, in der ein kindliches Wesen tut, was ihm gefällt. Es stimmt: "Wir müssen uns gar nicht befreien, indem wir uns zurück zu Kind und Tier bewegen, sondern wir sollten die Welt in all ihren Widersprüchen umarmen, halt so wie sie ist: komplex. Mehr Freiheit und Spaß und Erkenntnis geht kaum."
Aber hat das wirklich etwas mit dem Film von Lanthimos zu tun?
Tatsächlich ist Bella Baxter in ihrer naiven Gutgelauntheit, ihrer Fähigkeit, sich eine eigene Welt zu bauen und dort dann allem etwas Gutes abzugewinnen, die bessere Barbie.