Sex hält die Gene sauber
Die Vorteile der sexuellen Fortpflanzung wurden erstmals an einem Tiermodell beobachtet
Aus der Sicht der Evolution spielt Sex die Rolle einer umsichtigen Reinigungskraft, die geschickt die Gene in Ordnung hält und schädliche Mutationen gewissenhaft aussortiert. Denn wenn sexuelle Arten zur asexuellen Reproduktion übergehen, sammeln sich in ihrem Genom schneller nachteilige Mutationen an. Am Beispiel von Daphnia pulex, dem Wasserfloh, konnten Forscher das erstmals empirisch beobachten.
Warum gibt es Sex? Diese Frage gehört zu den grundlegenden Fragen der Evolutionsbiologie. Denn die „natürlichste Sache der Welt“ erfordert – biologisch gesehen – einen ungeheuren Aufwand: Partner, die sich finden müssen, komplexe Paarungsverhalten, die erfolgreiche Verschmelzung von Eiern und Spermien usw. – alles wäre viel einfacher, wenn alle Lebewesen weiblich wären und sich allein fortpflanzten. Die Reproduktionsrate würde deutlich steigen. Obendrein hätten die Weibchen den Fitness-Vorteil, dass sie ihren unmittelbaren Nachkommen durchschnittlich doppelt so viele Kopien der eigenen Gene überlassen würden. Und trotzdem vermehrt sich die überwiegende Anzahl der höheren Lebewesen auf geschlechtliche Art.
Die Rolle der Rekombination
Die theoretische Begründung, die die Forschung für die evolutionäre Vorherrschaft der geschlechtlichen Reproduktion gefunden hat, ist kurz gesagt die, dass sie die genetische Rekombination, d. h. den Austausch von genetischem Material zwischen Chromosomen, erlaubt. Sie ist biologisch vorteilhaft, weil sie die Grundlage dafür bildet, dass die natürliche Selektion nach Darwin effizient arbeiten kann. Ohne Rekombination wäre das Risiko groß, dass sich selektierte Mutationen gegenseitig behindern. Rekombination beschleunigt die adaptive Evolution, weil sie zulässt, dass sich mehrere vorteilhafte Mutationen im selben Individuum kombinieren. Wenn sich schädliche Mutationen in einer Population anhäufen, können dank der Rekombination bei den Nachkommen Chromosomen entstehen, die weniger mit diesen Mutationen belastet sind. Rekombination ist eine Voraussetzung dafür, dass sich ständig neue Kombinationen der genetischen Informationen entwickeln, die dann durch die Selektion geprüft werden können.
Eine neue Studie bestätigt nun diese Theorie. In der aktuellen Ausgabe von Science (Vol. 311, Iss. 5763 vom 16. Februar 2006) präsentieren die Forscher Susanne Paland und Michael Lynch von der Indiana University in Bloomington/Indiana, erstmals den empirischen Beweis, dass sich schädliche Mutationen bei ungeschlechtlich reproduzierenden Organismen im Lauf der Evolution stärker ansammeln, als bei sexuellen Lebewesen – zumindest gilt das für Daphnia pulex, den Wasserfloh.
Mehr schädliche Mutationen
Paland und Lynch untersuchten Wasserfloh-Populationen aus 75 verschiedenen Gewässern der USA und Kanadas. Der Wasserfloh ist ein hervorragend geeigneter Organismus, um die genetischen Folgen der sexuellen bzw. der asexuellen Vermehrung zu studieren: Schon mehrfach sind sich ungeschlechtlich vermehrende Populationen aus sexuellen Populationen hervorgegangen.
Bei ihren Genanalysen verglichen Paland und Lynch die Zahl der Mutationen mit möglichen funktionalen Folgen mit der Zahl der Mutationen mit nicht funktionalen Folgen. Dabei stellten sie fest, dass bei den asexuellen Populationen Mutationen mit funktionalen Auswirkungen deutlich häufiger vorkamen. Die Biologen folgern daraus, dass die asexuellen Wasserfloh-Populationen eine höhere Last von schädlichen Mutationen in ihrer genetischen Ausstattung mit sich führen als die sexuellen.
Wie Rasmus Nielsen vom Center for Bioinformatics and Department of Biology der Universität Kopenhagen in einem begleitenden Perspective-Artikel einschränkt, beweist dieses Ergebnis zwar nicht direkt, dass es allein die Ausselektierung von schädlichen Mutationen ist, was die sexuelle Fortpflanzung in der Evolutionsgeschichte so erfolgreich gemacht hat, trotzdem untermauere es, eine zentrale Komponente der Selektionstheorie: Dass nämlich die asexuelle Fortpflanzung zu einer Akkumulation von schädlichen Mutationen führt.
„Es ist bekannt, dass die sexuelle Vermehrung bei Pflanzen und Tieren weit verbreitet ist und dass Arten, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, meist kurzlebiger sind. Doch warum sich das durch die Evolution zieht, ist ein großes Rätsel“, schreibt Paland. „Unsere Resultate zeigen, dass asexuelle Nachkommen mit einer ständig zunehmenden Zahl genetischer Veränderungen belastet sind, die das Funktionieren ihrer Proteine negativ beeinflussen. Es sieht also so aus, als sei Sex wichtig, weil es das Genom von schädlichen Mutationen befreit.“ Und Coautor Michael Lynch fügt an:
Obwohl es zu diesem Thema schon seit einiger Zeit handfeste Theorien gibt, stellen diese Resultate den ersten definitiven Beweis auf molekularer Ebene dafür dar, dass die sexuelle Reproduktion die Wirksamkeit der natürlichen Selektion erhöht, indem sie schädliche Mutationen aus Populationen tilgt.
Rasmus Nielsen weist noch auf eine weitere wichtige Erkenntnis hin. Paland und Lynch schätzen, dass über 90 Prozent der Mutationen von Daphnia der negativen Selektion unterliegen, d. h. wegen ihrer negativen Fitnesskonsequenzen ausselektiert werden – das ist außerordentlich viel. Aufgrund der Neutralen Theorie von Motoo Kimura ging die Wissenschaft in den vergangenen 30 Jahren davon aus, dass die Mehrheit der genetischen Polymorphismen nicht oder nur wenig der Selektion unterliegen. Die neue Studie bestätigt damit aktuelle Untersuchungen, die zu gegenteiligen Ergebnissen kamen.
„Allmählich“, so schreibt Nielsen, „verändert sich die Weltanschauung der Evolutionsbiologie weg von dem statischen Konzept eines weitgehend optimierten Genoms, zu einem dynamischen Konzept von Organismen, die ständig von der Selektion herausgefordert werden und mit der gewaltigen genetischen Last fertig werden müssen, die ihnen neue schädliche sowie neue vorteilhafte Mutationen aufladen.“