Sex ja, Kinder nein

Der Neandertaler gibt immer eine Schlagzeile her

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Eigentlich haben die Experten vom Neandertaler-Genomprojekt ihr Ziel noch nicht erreicht. Aber das macht nichts, denn der 200. Geburtstag von Darwin und die AAAS-Jahrestagung waren Grund genug, die Zwischenergebnisse als „erste Version des Neandertaler-Genoms“ zu präsentieren.

Wie wurden wir modernen Menschen, was wir heute sind? Und hat der Neandertaler, der 10.000 Jahre lang parallel mit unsern Vorfahren in Europa lebte, etwas zu unserem Erbgut beigetragen?

Der Blick auf den anderen Menschen, der vor 30.000 Jahren ausstarb, ist ein Blick auf uns selbst. Wir vergleichen uns mit ihm und gewinnen so Erkenntnisse über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Alles, was von ihm blieb, sind Überreste wie Werkzeuge und Knochen, die von den Archäologen in mühevoller Kleinarbeit aus dem Boden geborgen werden. Mehr als 150 Jahre nach er Entdeckung des ersten Homo neanderthalensis nahe der Stadt Mettmann wissen wir eine Menge über diesen Verwandten, der lange vor uns Europa besiedelte und dessen Spur sich vor circa 30.000 Jahren in Südspanien verliert (vgl. Letzte Zuflucht Gibraltar).

Neandertaler-Kind, Foto: Christoph P.E. Zollikofer, Universität Zürich. Zur Rekonstruktion des Aussehens siehe: Reconstructing the face of the Gibraltar 2 (Devil's Tower) Neanderthal child

Längst ist die anfängliche Idee, es habe sich bei den Neandertalern um ein „rohes Urvolk“ gehandelt, gründlich widerlegt. Der Früheuropäer war dem anatomisch modernen Menschen ebenbürtig, er stellte raffinierte Werkzeuge her, trug Kleidung aus Leder und kochte sich aus Birkenrinde einen Alleskleber. Er kümmerte sich um seine Angehörigen und bestattete die Toten.

Lange wurde darüber gestritten, ob er fähig war, Sprache zu artikulieren, denn sein Stimmapparat weicht von unserem ab –heute sind sich die Experten einig, dass er sprechen konnte. Es gibt sogar Versuche, zu rekonstruieren, wie das geklungen haben mag (siehe Stimme der Neandertaler simuliert, sein im Computer simuliertes „E“ klingt ein bisschen wie aus dem Froschteich (vgl. Simulation).

Der Neandertaler war anders gebaut als der Homo sapiens. Durchschnittlich wurde er nur etwa 1,60m groß und er hatte stärkere Knochen, einen langen und abgeflachten Schädel mit niedriger Stirn, starke Überaugenwülste sowie ein fliehendes Kinn. Unterschiede, die heute in einer Menschenmenge kaum auffallen würden. Er war uns sehr ähnlich. Auf der wissenschaftlichen Online-Plattform NESPOS (Neanderthal Studies Professional Online Service), auf der alle Neandertalerfunde virtuell dokumentiert werden, kann man sich ansehen, wie z.B. Günther Jauch als Homo neanderthalensis aussehen würde (vgl. Morphing Box).

Vor 40.000 Jahren erreichte der moderne Mensch, aus Afrika kommend den europäischen Boden und breitete sich schnell aus (vgl. Der moderne Mensch kam durch die Hintertür). Wann die erste Begegnung zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis stattfand und wie sie aufeinander reagierten, kann nur in der Fantasie beantwortet werden. Aber sie lebten 10.000 Jahre lang in Europa miteinander oder nebeneinander, in dem langen Zeitraum müssen sie trotz der dünnen Besiedelung des Kontinents aufeinander gestoßen sein. Hatten Sie Sex? Haben Sie Kinder gezeugt? Zumindest die zweite Frage kann durch den Blick in das Genom des Neandertalers und den direkten Vergleich mit unserem Erbgut beantwortet werden.

Unsere nächsten Verwandten

Vor drei Jahren begannen Forscher am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie mit der Entzifferung des Erbgutes der Neandertalers (vgl. The Neandertal Genome Project). Eine Mammutaufgabe, denn die DNS zerfällt mit der Zeit und die Gene, die aus den uralten Knochen extrahiert werden, müssen wie ein Puzzle zusammengesetzt und teilweise rekonstruiert werden.

Kontaminationen durch Bakterien, Pilze und die DNS heutiger Menschen, die mit den Fundstücken in Berührung kamen, müssen entfernt werden, die „echte“ DNS wird dann mithilfe einer extra entwickelten Methode sequenziert. In schier endlosen Abgleichkontrollen werden die Fragmente als authentisch verifiziert und am Ende wieder zusammengesetzt und ergänzt (vgl. Das Genom des Neandertalers wird entschlüsselt). 2006 meldeten die Wissenschaftler bereits erste Erfolge, eine Million Basenpaare der Zellkern-DNS eines Homo neanderthalensis waren entschlüsselt (vgl. Die erste Million ist sequenziert). Zwei Jahre später wollte die internationale Expertengruppe das komplette Genom vorlegen – so war das geplant.

Das Neandertalergenom-Team am Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, von links nach rechts: Adrian Briggs, Johannes Krause, Svante Pääbo, Richard E. Green, Bild: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Jetzt ging das Team anlässlich der Jahrestagung der Association for the Advancement of Science (AAAS) unter dem ein wenig irreführenden Titel „Eine erste Version des Neandertaler-Genoms“ an die Öffentlichkeit. Der Projektleiter Svante Pääbo hatte einen Vortag dort zugesagt und zudem stand Charles Darwins 200. Geburtstag an.

Am 12. Februar wurden der Presse also Ergebnisse präsentiert – und zugegeben, dass diese erste Version des eine sehr vorläufige ist, denn erst 60 Prozent des Genoms sind sequenziert. Die Jahreskonferenz der größten wissenschaftlichen Gesellschaft der Welt plus ein öffentlichkeitswirksames Jubiläum garantierten die Schlagzeilen. Hat funktioniert – und im Grunde hat das Projekt ja auch jeden Artikel verdient, der erscheint. Die Rückschläge sind überwunden, es geht voran. 2007 war das Jahr der Krise, denn die Jubelmeldung über die erste Million entschlüsselter Gene musste revidiert werden. Die Proben waren trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und ständiger Vergleiche mit dem Erbgut menschlicher Zeitgenossen verunreinigt worden, die Resultate damit unbrauchbar. Neue Sicherheitsstandards und Verfahren wurden eingeführt und die Arbeit von vorne begonnen. Schlüsselsequenzen der DNS werden nun radioaktiv markiert und damit jede mögliche Kontamination sichtbar gemacht (vgl. Der Neandertaler spricht zu uns).

Jetzt liegen immerhin 60 Prozent des Erbguts vor. Svante Pääbo geht davon aus, dass noch diesem Jahr die Entzifferung des gesamten Genoms in einer echten ersten kompletten Version vorliegen wird. Im Sommer soll der aktuelle Stand der Forschungsergebnisse wissenschaftlich publiziert werden.

Die Frage, die alle Journalisten stellen, beantwortet Svante Pääbo mit einem Lächeln: Ja, er gehe davon aus, dass moderner Mensch und Neandertaler wahrscheinlich miteinander Sex hatten. Beweisbar ist das allerdings nicht, mehr eine Frage der Vorstellungskraft und der Einsicht in die menschliche Natur. Viel mehr interessiert den Forscher, ob sich ein Neandertaler-Anteil in unseren Genen findet. Der Molekularbiologe erklärt:

Diese Sequenzen können nun mit den bereits sequenzierten Genomen von Menschen und Schimpansen verglichen werden, um festzustellen, wie das Genom der ausgestorbenen Neandertaler von dem des heutigen Menschen abweicht. Vorläufige Ergebnisse unseres Konsortiums deuten allerdings darauf hin, dass Neandertaler, wenn überhaupt, nur einen sehr geringen Anteil zu der bei den heutigen Menschen gefundenen Varianz beigetragen haben.

Für ihre Erbgutanalyse verwenden die Wissenschaftler Teile von Neandertaler-Skeletten, die aus Kroatien stammen und für die Untersuchung kaum beschädigt werden mussten. Durch die zusammen mit der Firma 454 Life Sciences speziell entwickelte Technik gelang die Herstellung der Sequenzen aus weniger als einem halben Gramm Knochen.

Um ihre Resultate zu überprüfen, haben die Forscher zudem mehrere Millionen Basenpaare anderer Fundorte bestimmt, darunter steril freigelegte 43.000 Jahre alte Neandertalerknochen aus der El Sidron-Fundstelle in Spanien, einen zwischen 60.000 bis 70.000 Jahre alten Knochen aus der Mezmaiskaya Höhle im Kaukasus, und eine Probe von dem 40.000 Jahre alten Skelett aus dem Neandertal. Im Fokus der weiteren Analysen hat das Team um Pääbo unter anderen das FOXP2-Gen, das die Kontrolle über Mund- und Zungenbewegungen steuert, die für ein klar artikuliertes Sprechen grundlegend sind. Und die Gene, die für die Entwicklung und Alterung des Gehirns zuständig sind. Es bleibt spannend – je mehr wir über unseren verstorbenen Onkel Neandertaler erfahren, desto mehr erfahren wir über uns selbst, und darüber wie wir zu dem wurden, was wir heute sind.