Letzte Zuflucht Gibraltar
Der Neandertaler zog sich immer weiter in den Südwesten zurück
Bis heute wird heftig darüber debattiert, wie lange und in welcher Art moderner Mensch und Neandertaler in Europa zusammenlebten. Sicher ist, dass der ureuropäische Mensch ausstarb und vermutlich hängt sein endgültiges Ableben mit dem Auftauchen des Homo sapiens sapiens in seinem Lebensraum zusammen. In den letzten Jahren wurden immer wieder Funde aus der Vergangenheit neu datiert und zeitliche Einschätzungen revidiert. In Südspanien haben Wissenschaftler nun im Innern einer Höhle nachgegraben und sie sind sicher, dass sich dort bis vor 28.000 Jahren Neandertaler aufhielten – vielleicht sogar bis vor 24.000 Jahren.
2006 ist das Jahr des Neandertalers, denn vor 150 Jahren wurden die Skelettteile im Neanderthal entdeckt, denen seine Art ihren Namen verdankt. Ein Anlass für mehrere Ausstellungen und einen Kongress (Neanderthaler und Co.). In vielen Köpfen herrscht bis heute das Bild eines affenähnlichen Wesens, das vorübergebeugt mit einer Keule in der Hand das Land durchstreicht. Völlig falsch, wie die Experten nicht müde werden zu betonen: Für Keulen gibt es keinen archäologischen Nachweis und die gebückte Körperhaltung geht auf falsche Skelettrekonstruktionen, bzw. einen alten und kranken Neandertaler zurück.
Tatsächlich war der Homo sapiens neanderthalensis dem modernen Europäer sehr ähnlich und in einer Menschenmenge würde er heute kaum auffallen. Lange war er der Bewohner Eurasiens, je nach Definition (wann er sich als eigene Art entwickelte), hat er den Kontinent 160.000 bis 500.000 Jahre lang besiedelt. Vor etwa 40.000 Jahren bekam er menschliche Konkurrenz, der Homo sapiens sapiens hatte Afrika verlassen und stieß nach Europa vor (Out of Africa).
Lange stand die Frage im Raum, ob der Neuankömmling den Alteingesessenen bekriegte (Neandertaler: Fand der erste Weltkrieg vor 40.000 Jahren statt?). Heute gilt das als unwahrscheinlich, die beiden Menschenformen lebten zumindest in einigen Regionen über lange Zeiten parallel, ob und wie sie miteinander zurecht kamen, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen (Multikulti in der Feengrotte). Die Spezialisten gehen davon aus, dass der moderne Mensch kulturell überlegen und in seinem Verhalten flexibler war. Er lebte in größeren Gruppen zusammen, kommunizierte intensiver und entwickelte Techniken wie bessere Kleidung sowie effektivere soziale Netzwerke. Das Klima verschlechterte sich, es wurde kälter und die Wettbewerbsnachteile führten zum Verschwinden des Neandertalers.
Werkzeuge und Kunst
Das Bild des tumben und sprachlosen Flachkopfs ist längst überholt. Sicher ist, dass der Neandertaler durchaus technisch raffinierte Werkzeuge herstellte, diese Fundstücke werden dem Moustérien) zugeordnet, benannt nach Le Moustier in Frankreich, wo derartig bearbeitete Steine neben Neandertaler-Skeletten ausgegraben wurden. Ob er auch als eiszeitlicher Künstler aktiv war, bleibt vorerst umstritten (Steinzeitkünstler Neandertaler?). Neue Rekonstruktionen zeichnen das Bild eines frühen Menschen, der Kleidung trug, seine kranken Angehörigen pflegte und sie nach dem Tod liebevoll auf Blumen bestattete, der Sprache mächtig und möglicherweise sogar humorvoll war ("Wir sind Neandertaler-Fans").
Die große Mehrheit der Paläoanthropologen hält den Homo sapiens neanderthalensis nicht für einen Urahn der heute noch lebenden Menschen. Gen-Analysen weisen darauf hin, dass er ausstarb, ohne in unserem Erbgut Spuren zu hinterlassen (Kein liebevoller Neandertaler in uns). Bis 2008 hat sich ein internationales Forscherteam zum Ziel gesetzt, das Neandertaler-Genom komplett entschlüsselt zu haben (Entschlüsselung des Neandertalergenoms).
In jüngster Zeit mussten viele Datierungen von Funden aus Vergangenheit revidiert werden, an vielen Orten Europas lebten die beiden Menschenarten wohl nur etwa 2.000 Jahre nebeneinander. Und vor ca. 30.000 Jahren verliert sich die Spur des Neandertalers. Seine letzte Zuflucht war wohl der Südwesten Europas, die iberische Halbinsel. Das bestätigt jetzt auch ein neuer Forschungsbericht, der gerade vom Wissenschaftsmagazin Nature online veröffentlicht wurde (in der Printausgabe wird der Artikel erst zu einem späteren Zeitpunkt erscheinen).
Clive Finlayson vom Gibraltar Museum und mehr als zwanzig Kollegen von Instituten aus der ganzen Welt berichten über die letzten Spuren des Neandertalers, die sie in einer Höhle im Kalksteinfelsen von Gibraltar gefunden haben (Late survival of Neanderthals at the southernmost extreme of Europe). Die Wissenschaftler nahmen eine Nachgrabung in der Gorham-Höhle vor. Schon 1848 war in Gibraltar ein Neandertaler- Schädel) gefunden worden. Insgesamt sind heute acht Neandertalerfundorte auf dem rund 6 km langen und 426 m hohen Felsen bekannt. In der Gorham-Höhle waren bei Grabungen zwischen 1948 und 1956 Moustérien-Werkzeuge gefunden worden.
Zwischen 1999 und 2005 erforschte das Team um Clive Finlayson nun erneut systematisch den Boden tief in der Höhle. Sie trugen vier Schichten auf einer Fläche von knapp 30 Quadratmetern ab, untersuchten und datierten sie. Sie fanden neben Werkzeugen auch mit Steinklingen bearbeitete Tierknochen. Dieser Teil der Höhle bietet durch einfallendes natürliches Licht und eine sehr hohe Decke optimale Bedingungen und war vermutlich über tausende Jahre immer wieder besiedelt – die Spuren vieler Herdfeuer aus ganz verschiedenen Zeiten wurden entdeckt. Die Holzkohle war wesentlich für die Datierung.
Die Untersuchungen ergaben, dass die jüngsten Überbleibsel mindestens 28.000, vielleicht nur 24.000 Jahren alt sind. Die Höhle wäre damit die letzte bekannte Zuflucht der Neandertaler in Europa. Das Klima war zu dieser Zeit unangenehm kalt, wahrscheinlich war es nirgends milder als auf dem Kalksteinfelsen mit Blick auf Afrika. Rund um die Höhle gab es ausreichend Pflanzen und Tiere, um die Versorgung zu sichern. In der Region haben sich damals nachweislich auch immer wieder moderne Menschen aufgehalten, wahrscheinlich sind sich die verschiedenen Menschentypen begegnet, auch wenn die Besiedelung insgesamt sehr dünn war. Mit Sicherheit hat es dort keinen heftigen Vernichtungskrieg in der Altsteinzeit gegeben, eher eine langsame Veränderung, die den Neandertaler immer mehr ins Aus trieb. Das Team um Clive Finlayson schreibt dazu:
Der Übergang vom Mittel- zum Jungpaläolithikum brachte keinen plötzlicher Bruch – zumindest nicht auf der südlichen iberischen Halbinsel – sondern hatte die Form eines langen und diffusen räumlichen-zeitlichen Mosaiks, an dem Populationen mit geringer Dichte beteiligt waren.
Zweifel und Debatten
In einem begleitenden News&Views-Artikel melden Eric Delson vom Lehman College in New York und Katerina Harvati vom Max- Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig leise Zweifel an. Das betrifft zum einen die Fundsituation, vor allem aber die Tatsache, dass keine Knochen des Neandertalers in den Schichten der Höhle gefunden wurden, sondern nur Moustérien-Steinwerkzeuge und Tierknochen. Erst der Fund von Fossilien des Homo sapiens neanderthalensis wäre ein wirklich schlagender Beweis.
Sollte die Datierung von ungefähr 25.000 Jahren allerdings tatsächlich bestätigt werden, würde das der Debatte um das so genannte Kind von Lagar Velho, das in Portugal gefunden und auf ein Alter von 24.500 Jahren datiert wurde, weiter anheizen. Einige Spezialisten halten es aufgrund von Schädelmerkmalen und der Skelettproportionen für einen Hybriden – ein Kind sowohl des Neandertalers wie des anatomisch modernen Menschen.
Neben der Tatsache, dass die anatomischen Merkmale an kindlichen Knochen schlechter zu erkennen sind, galt die Tatsache, dass sie sich über tausende von Jahren nach dem Aussterben des Homo sapiens neanderthalensis in der Region erhalten haben sollten, als schlagendes Gegenargument der Vermischungs-Theorie. Die Fossilien des Lagar Velho-Kindes sind übrigens noch bis 19. November in der Ausstellung ROOTS // Wurzeln der Menschheit im Rheinischen Landesmuseum Bonn zu sehen.