Multikulti in der Feengrotte
Neue Beweise für Koexistenz von Neanderthalern und Homo sapiens sapiens in Europa
Ob der Neandertaler und der frühe moderne Mensch in Europa friedlich koexistierten oder sich bekriegten, wenn sie sich trafen, ist bis heute umstritten. Unumstritten ist, dass der Neandertaler vor ungefähr 30.000 Jahren ausstarb und der Homo sapiens sapiens überlebte. Im östlichen Zentralfrankreich lebten beide Menschentypen parallel - in der Feenhöhle in Châtelperron wurden Knochen befunden, die das beweisen. Aber verblüffenderweise stellte eine neue Datierung fest, dass die frühen modernen Europäer nur vorübergehend dort eingezogen waren, wohl weil es den Neandertalern zu kalt geworden war.
Brad Gravina und Paul Mellars von der Cambridge University und Bronk Ramsey von der Oxford University berichten in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals Nature über ihre Neudatierung von Fundstücken aus der Feenhöhle.
Die Grotte des Fées in Châtelperron liegt in einem kleinen Tal an der Nordflanke des Zentralmassives in Frankreich. Sie wurde 1850 entdeckt, als die Eisenbahn quer durchs Land gebaut wurde und seither ausgegraben. Die letzte archäologische Erschließung führte Henri Delaporte zwischen 1951 und 1955 durch. Sorgfältig trug er Schicht für Schicht ab und dokumentierte alles sehr genau. Das machte es den Archäologen jetzt möglich, neue Radiokarbondatierungen durchzuführen, die den detailliert beschriebenen Schichten zugeordnet werden können.
Die Analysen der Neandertaler- und Homo sapiens sapiens-Knochen ergaben, dass die Höhle vor 38.000 bis 40.000 von dem Menschentyp bewohnt war, deren direkte Vorfahren den Raum zwischen dem Nahen Osten und Europa bereits seit 150.000 Jahren besiedelten. Dann zogen für 1.000-1.500 Jahre moderne Menschen, Zuwanderer aus Afrika, dort ein. Vor ungefähr 36.000 Jahren besiedelten nachweislich wieder die Neandertaler die Feengrotte. Vor 34.000 Jahren verliert sich jede Spur von ihnen endgültig. Paul Mellars erklärte gegenüber der Times:
Dies ist der erste eindeutige Beweis, dass Neandertaler und moderne Menschen sich in Frankreich mehr als tausend Jahr lang überlappten.
Dem Neandertaler war kalt
Wie und wann die direkten Ahnen der modernen Ahnen der Europäer auf den Kontinent zuwanderten, wird immer noch debattiert. Die meisten Anthropologen gehen inzwischen davon aus, dass der Homo sapiens sapiens aus Afrika kam (vgl. Out of Africa), und dass der Neandertaler, dessen gedrungene und muskulöse Gestalt so lange dominiert hatte, sang- und klanglos ausstarb, ohne eine genetische Spur in uns zu hinterlassen (vgl. Kein liebevoller Neandertaler in uns). Warum der Homo sapiens neanderthalensis den Kürzeren zog, ist bis heute unklar, aber ein frühgeschichtliches Massengemetzel wird inzwischen für unwahrscheinlich gehalten - allein schon weil die Besiedlungsdichte viel zu gering war. Wahrscheinlich war der moderne Mensch schlicht sozial besser organisiert (vgl. Rätselhafter Abgang).
Längst revidiert ist allerdings das Klischee vom dumpfen, kulturlosen und eine Keule schwingenden Frühmenschen, das bewiesen nicht zuletzt die in Châtelperron gefundenen Steinwerkzeuge (vgl. Klein und knuffig, mit Muskeln und Hirn, aber wenig kreativ). Anatomisch wies der Neandertaler einige deutliche Unterschiede zu unseren direkten Vorfahren auf: Er war untersetzt, robust mit dicken Knochen, sehr muskulös, hatte kurze Gliedmassen und ein vorspringendes Gesicht mit flacher Stirn, fliehendem Kinn, großer Nase und dicken Augenbrauenwülsten. Mit diesen körperlichen Merkmalen müsste er weniger empfindlicher gegen Kälte gewesen sein.
Der moderne Mensch verfügte dagegen über besserer Kleidung, Technik und größere, sozial komplex strukturierte Gruppen. Die neuen Datierungen der Knochen aus der Feengrotte belegen, dass die ursprünglichen Neandertaler-Bewohner nach einem Kälteeinbruch nach Süden abwanderten, was den ersten modernen Menschen die Chance zum Einzug gab. Die Forscher verglichen ihre Datierungen mit grönländischen Eisbohrungen und anderen Klimadaten (vgl. Zurück in die Zukunft) und stellten fest, dass es zum Zeitpunkt der Abwanderung des Homo sapiens neanderthalensis einen plötzlichen und andauernden Kälteeinbruch gab. Die durchschnittlich um acht Grad niedrigeren Temperaturen scheinen Homo sapiens sapiens nicht viel ausgemacht zu haben, er blieb, bis sich das Klima wieder leicht erwärmte. Ob die zurückkehrenden Neandertaler die seltsam andersartigen Menschen gewaltsam aus der Höhle vertrieben oder ob sie sogar eine Weile dort zusammenlebten, bleibt unklar.
Dass sich ausgerechnet der Neandertaler als kältempfindlich erwies, ist erstaunlich, zugleich aber ein deutlicher Hinweis darauf, was die Überlegenheit des Homo spaiens sapiens ausmachte. Die neuen Erkenntnisse liefern neue Hinweise, warum der Ureuropäer nicht bis heute überlebte. Paul Mellars ist überzeugt:
Moderne Menschen konnten dank Kultur und Technik besser mit Kälte umgehen, etwa mit besserer Kleidung, besserem Umgang mit Feuer und wohl auch besseren Unterkünften. Die Ausrottung der Neandertaler ist teils der Klimaverschlechterung geschuldet - aber vor allem, denke ich, dem Wettbewerb um Territorien, Feuerholz und Tierpopulationen in einer Zeit extremer Kälte und knapper Ressourcen.
Jubiläumsjahr 2006
1856 fanden Steinbrucharbeiter im Neandertal bei Düsseldorf die Skelettreste eines fossilen Menschen, der sich als früherer Bewohner ganz Europas erwies und nach seinem Fundort benannt wurde. Im kommenden Jahr finden anlässlich des 150 Jahrestages seiner Entdeckung verschiedene Veranstaltungen und Ausstellungen statt, die das revidierte Bild vom Homo sapiens neanderthalensis präsentieren (Neanderthaler und Co.).
Es geht schon dieses Jahr los: Vom 27. August bis zum 30. Oktober zeigt das Urgeschichtliche Museum Blaubeuren in der Ausstellung "Zu Gast: Der Neandertaler" das Skelett des ersten Neandertalers. Das Neanderthal Museum lädt unter dem Titel "Hautnah. Neanderthaler von 4. Mai bis 24. September zu einem Ausstellungsbesuch ein. Und last but not least wird ein internationaler Kongress mit dem Titel "150 Years of Neanderthal Discovery" an der Universität Bonn stattfinden, wo sich rund 200 Wissenschaftler über den neuesten Forschungsstand austauschen werden.