Klein und knuffig, mit Muskeln und Hirn, aber wenig kreativ
Der Neandertaler zeigt Köpfchen
Neandertaler sind immer noch rätselhaft. Neue Untersuchungen an ihren Zähnen zeigen, dass sieschneller als der moderne Mensch erwachsen werden mussten. Weniger kreativ sollen sie auch gewesen sein. Weitere Unterschiede zum heutigen Menschen lassen eine Verwandtschaft noch unwahrscheinlicher erscheinen.
Die Diebe, die Ende März im Neanderthal-Museum mehrere uralte Zähne geklaut hatten, bekamen offensichtlich doch noch ein schlechtes Gewissen und warfen sie Anfang April in Papiertaschentücher verpackt einfach in den Museumsbriefkasten. Die kostbaren Stücke waren erst in diesem Jahrtausend bei Nachgrabungen an der Stelle im Neandertal nahe Düsseldorf ausgegraben worden, wo vor 150 Jahren der erste Homo sapiens neanderthalensis entdeckt wurde. Jetzt sollen der Milch- und der Backenzahn eingehend untersucht werden, um Rückschlüsse auf das Ernährungsverhalten des frühen Europäers zu ziehen.
Andere Kauwerkzeuge des Neandertalers sind schon gründlich von Wissenschaftlern unter die Lupe genommen worden. Schon lange ist bekannt, dass der Neandertaler anders aussah als der Homo sapiens sapiens, der aus Afrika kam und dann vor ungefähr 30.000 Jahren den letzten europäischen Eiszeitmenschen endgültig verabschiedete. Der Neandertaler war untersetzt, robust mit dicken Knochen, sehr muskulös, hatte kurze Gliedmassen und ein vorspringendes Gesicht mit flacher Stirn, fliehendem Kinn, großer Nase und dicken Augenbrauenwülsten. Die Behauptung, dass seine Hände weniger fingerfertig gewesen seien als die des modernen Menschen, gehört dagegen inzwischen genauso in den Bereich der Vorurteile wie die Vorstellung vom gebückt gehenden, keulenschwingenden Höhlenmenschen ohne Sprache und Kultur. Tatsächlich waren die Neandertaler sehr geschickt in der Herstellung von Steinwerkzeugen (Werkzeuge der Neandertaler).
Ihre Ernährung war sehr fleischreich und ihre Zähne beanspruchten sie beim Beißen und Kauen sehr intensiv. Ihr Gehirn war sogar etwas größer als unseres, was aber noch nicht viel über ihre kognitiven Leistungen aussagt. Kürzlich veröffentlichten Thomas Wynn und Frederick L. Coolidge von der University of Colorado in Colorado Springs im Fachmagazin Journal of Human Evolution ihre interdisziplinäre Studie über die Gedächtnisleistung des Neandertalers. Die beiden Forscher gehen davon aus, dass der Neandertaler dem modernen Menschen in Sachen Langzeitgedächtnis ebenbürtig war. Unterlegen war er aber möglicherweise in der Fähigkeit, das einmal Gelernte dann aktiv und simultan in einer sich neu ergebenden Situation umzusetzen. Das so genannte Arbeitsgedächtnis gilt inzwischen in der Psychologie als wichtiges Intelligenzmerkmal, weil seine Kapazität über die Bewältigung komplexer Denkaufgaben entscheidet. Nach der Meinung von Wynn und Coolidge ist das mangelhafte Arbeitsgedächtnis der Grund für die fehlende Innovationsfähigkeit des Neandertalers und damit ein wichtiger Faktor für sein Aussterben. Er war schlicht weniger kreativ als der Homo sapiens sapiens und dadurch in der Konkurrenz um den Lebensraum unterlegen.
Der Neandertaler war nicht so kreativ wie der heutige Mensch
Ob das stimmt, muss sich sicher erst noch erweisen. Aber Fernando V. Ramirez Rozzi vom Sonderforschungsbereich Dynamique de l’Evolution Humaine der CNRS in Paris und José Maria Bermudez de Castro vom Museo Nacional de Ciencias Naturales in Madrid legen in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournal Nature noch einen Grund für die Unterlegenheit des Homo sapiens neanderthalensis vor: Seine Kindheit war kürzer, er hatte also weniger Zeit zu lernen.
Die beiden Wissenschaftler untersuchten Zähne verschiedener einst in Europa lebender Menschen: 800.000 Jahre alte Exemplare vom Homo antecessor, 400.000 bis 500.000 Jahre alte Beißerchen des Homo heidelbergensis, 28.000 bis 130.000 Jahre alte Zähne des Neandertalers und 8.000 bis 20.000 alte Kauwerkzeuge des modernen Menschens. Dabei zeigte sich bei der Analyse der knapp 150 Neandertaler-Zähne von insgesamt 360 Proben im Aufbau des Schmelzes, dass diese Menschen überraschend früh erwachsen wurden. Kindheit und Jugend sind Ausbildungszeiten – beim Menschenaffen dauert das Erwachsenwerden noch bis zu zwölf Jahre, beim modernen Menschen hingegen 18 bis 20 Jahre (In einem Land vor der Teenagerzeit).
Neandertaler hatten nur eine kurze Kindheit
Der Neandertaler entwickelte sich dabei schneller als alle anderen untersuchten humanen Verwandten. Im Alter von gerade mal 15 Jahren war er komplett ausgewachsen. Selbst die wesentlich älteren Europäer, der Heidelberg-Mensch und sein Vorfahr Antecessor waren trotz deutlich geringeren Gehirnvolumens länger Teenager. Die Zähne des Neandertalers wuchsen derartig schnell, dass er einen anderen Stoffwechsel und eine wesentlich kalorienreichere Ernährung als sein Vetter, der Homo sapiens sapiens, gehabt haben muss. Von der Art seines Zahnaufbaus ähnelt der Eiszeit-Europäer mehr seinen Vorfahren als uns.
Damit untermauern die Anthropologen erneut die Unterschiedlichkeit zwischen dem modernen Menschen und dem Neandertaler. Erst kürzlich hatten genetische Untersuchungen alter Knochen wieder bestätigt, dass wir wohl nicht mit dem europäischen Ureinwohner verwandt sind (Kein liebevoller Neandertaler in uns). Skeptiker wie den Verfechter der Multiregionalismus-These (Neue Zweifel an der Out of Africa-Theorie) Erik Trinkhaus von der University of Pennsylvania überzeugen die neuen Argumente erwartungsgemäß überhaupt nicht. Gegenüber dem New Scientist kommentierte er ironisch:
Sie versuchen, irgendein Wundermittel zu finden, das den Erfolg des modernen Menschen und das Verschwinden der Neandertaler erklärt aber es gibt kein solches Wundermittel.