Rätselhafter Abgang

Zog der Neandertaler evolutionsgeschichtlich den Kürzeren, weil er sprachlich unterlegen war?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mindestens 200.000 Jahre lang hat er die Erde bewohnt und auch eisigen Klimaphasen getrotzt. Vor 30.000 bis 40.000 Jahren dann verschwand der Neandertaler ziemlich abrupt, um dem aus Afrika herbeiziehenden modernen Menschen Platz zu machen. In der aktuellen Ausgabe von Nature beschäftigt sich der Archäologe Paul Mellars von der Universität Cambridge u. a. erneut mit der Frage, warum der Neandertaler verdrängt wurde.

Vieles am Neandertaler ist nach wie vor rätselhaft, doch das Bild von der keulenschwingenden zotteligen Dumpfbacke gehört ziemlich sicher ins Reich der Klischees. Die Forschungsergebnisse der letzten Jahr haben gezeigt, dass der frühe Bewohner Europas nicht nur ein guter Jäger und Werkzeugmacher war, sondern auch ein Kulturwesen, das seine Angehörigen liebevoll bestattete, ein ästhetisches Empfinden von Form und Symmetrie besaß und durch Sprache kommunizierte. Zu klären bleibt aber weiterhin, warum er vor 30.000 bis 40.000 Jahren so sang und klanglos verschwand und warum im Genpool des heutigen Menschen keine Spuren (Kein liebevoller Neandertaler in uns) hinterlassen hat.

Von Afrika in die Welt

In seinem Nature-Review geht der britische Archäologe Peter Mellars die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahre noch einmal durch. Weitgehend gesichert scheint nun, dass der moderne Mensch vor zirka 160.000 Jahren in Afrika seinen ersten Auftritt hatte und um 60.000 bis 40.000 vor Chr. seine Ausbreitung über die Welt (Out-of-Africa-Theorie) begann: Erst im vergangenen Jahr haben die Funde in Herto in Äthiopien (vgl. Nature, 423, 2003) die Existenz anatomisch moderner Menschen bestätigt. Fossilien in Europa und Asien sind hingegen nicht älter als 40.000 bis 45.000 Jahre. Die große Ausnahme bildet Israel, wo die Funde in den Höhlen von Skhul und Qafzeh für ein kurzes Intermezzo früher anatomisch moderner Hominiden dort spricht, die vermutlich um 100.000 v. Chr. den Nil hinaufgezogen.

Der Siegeszug des anatomisch und genetisch modernen Menschen wird mit der Aurignacien-Kultur (40.000 bis 35.000 vor Chr.) in einen festen Zusammenhang gebracht. Ihre Verbreitung lässt sich vom Nahen Osten über Ost- und Zentraleuropa bis nach Frankreich und Spanien verfolgen und man nimmt an, dass nur der moderne Mensch diese frühe altsteinzeitliche Kultur geprägt haben kann.

Charakteristisch für das Aurignacien ist die Fülle an sorgfältig gearbeiteten Werkzeugen, an Schmuck und an Kunstgegenständen sowie die Einheitlichkeit der Bearbeitungstechniken. Doch leider ist es so, dass die gefundenen Gegenstände sich nicht immer eindeutig mit Knochenfunden des modernen Menschen zusammenbringen lassen. Das Alter der Skelettreste der bekannten Vogelherdhöhle z. B. musste nach einer Untersuchung mit der Radiokarbonmethode als deutlich jünger und nicht einem modernen Menschen zuordenbar korrigiert werden.

Für Mellar ist dies jedoch kein Grund, daran zu zweifeln, dass frühe moderne Menschen Träger der Aurignacien-Kultur waren. Der Mangel an Fossilspuren ist für ihn eher ein Beleg dafür, dass die Aurigancier ihre Toten ärgerlicherweise nicht in ihren Höhlen begruben. Dass die frühen Kunstwerke von den Neandertalern stammen könnten (vgl. Steinzeitkünstler Neandertaler?), wie Archäologen der Universität Tübingen vorschlugen, weist Mellar als unbegründet zurück. Seiner Meinung nach existieren immer noch genügend andere Fundorte (z. B. Pestera cu Oase-Höhle in Rumanien, Mladec in Tschechien), um die feste Verbindung zwischen dem Aurignacien und dem modernen Menschen zu belegen.

Steinzeitlicher Technologietransfer

Die einheimischen Neandertaler und die einwandernden modernen Menschen müssen aufeinander getroffen sein. Was sich dabei abgespielt hat - ob sie sich bekämpft oder friedlich nebeneinander her gelebt haben -, darüber kann man nur spekulieren. Doch wenn sie miteinander Nachkommen gezeugt haben, was sehr naheliegend ist, so hat dies das Genmaterial des Homo sapiens sapiens nicht nachweislich geprägt.

Bemerkenswert findet Mellars jedoch, dass mit dem Auftreten der Aurignacier in Europa bei einigen der späten Neandertaler-Populationen in Zentral- und Westeuropa ganz spezifisch moderne Handwerkstechniken Eingang fanden. Ob und welche Rückschlüsse dies auf die Gehirnleistung der Neandertaler zulässt, ist umstritten. Doch die Tatsache, dass keine Neandertaler-Gene im Erbgut des modernen Menschen aufzuspüren sind, lässt, so Mellars, auf einen direkten Konkurrenzkampf um Raum und Ressourcen zwischen beiden Frühmenschen-Gruppen schließen. Durchgesetzt haben sich dabei die ausgefeilteren Techniken und die komplexeren Organisationsstrukturen der modernen Menschen.

Vorteil Kommunikation

Dass die ortsansässigen Neandertaler ausgerechnet Einwanderern aus einer Region mit völlig anderen Umweltbedingungen unterliegen, wirft die Frage auf, welche besonderen Charakteristika diesen Frühmenschen eigen waren. Die Fundstücke der Blombos-Höhle in Südafrika, die auf ein Alter von 70.000 Jahren datiert wurden (vgl. "Die Afrikaner dürfen stolz sein"), sind ein Indiz dafür, dass die Hominiden dort über ein recht hochentwickeltes Abstraktionsvermögen und damit auch über eine komplexe linguistische Kommunikationsmöglichkeiten verfügten.

So hält Mellars es für sehr wahrscheinlich, dass "die Entstehung einer komplexeren Sprache und anderer Formen symbolischer Kommunikation den ersten vollständig modernen Populationen den zentralen Anpassungsvorteil verschafften, der zu deren Ausbreitung über Asien und Europa beitrug und den Untergang der europäischen Neandertaler herbeiführte". Wie und wann das alles genau stattfand bleibt jedoch noch zu erforschen.