Steinzeitkünstler Neandertaler?

Die Neudatierung der menschlichen Skelettreste der Schwäbischen Alb stellt die Annahme in Frage, dass die ersten modernen Menschen auch die ersten Künstler waren

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Archäologen der Universität Tübingen haben sich die menschlichen Skelettreste der Vogelherdhöhle noch einmal vorgeknöpft. Sie kommen zu dem erstaunlichen Befund, dass auch der Neandertaler der Schöpfer der ebenfalls dort gefundenen Elfenbeinschnitzereien sein könnte. Im aktuellen Nature diskutieren sie ihre Forschungsergebnisse.

Der Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis) gilt nicht unbedingt als kreativ (Klein und knuffig, mit Muskeln und Hirn, aber wenig kreativ), wenngleich fest steht, dass er sich bei der Herstellung von Handwerkszeug sehr geschickt anstellte. Doch vielleicht muss ihm mehr künstlerische Schaffenskraft zugestanden werden, als das bislang der Fall war.

Neudatierungen mittels der Radiokarbonmethode

Seit der Entdeckung von Fossilien der ersten anatomisch modernen Menschen Mitteleuropas im Felsschutzdach Cro-Magnon ("Cro-Magnon-Mensch") in Südwestfrankreich zusammen mit Werkzeugen der Aurignacien-Kultur (ca. 40.000 bis 30.000 v. Chr.) galt als gesichert, dass nur der moderne Mensch (Homo sapiens sapiens) diese frühe altsteinzeitliche Kulturstufe geprägt haben konnte. Nicht etwa der Neandertaler, der zur dieser Zeit gleichfalls die Erde besiedelte.

Im Vogelherd gefundener Schädel (Bild: Jensen, Universität Tübingen)

Doch in den vergangenen Jahren haben verschiedene Untersuchungen Zweifel an diesem lange gehegten Postulat aufkommen lassen. Kohlenstoffuntersuchungen an den Knochenfunden von Cro-Magnon ergaben beispielsweise, dass diese erheblich jünger sind als gedacht und zeitlich dem frühen Gravettian (Gravettian: vor 28.000 bis 22.000 Jahren) zugeordnet werden müssen.

Nun hat ein Wissenschaftler-Team um Nicholas Conard von der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Universität Tübingen zusammen mit Kieler und Chicagoer Kollegen die menschlichen Skelettreste aus der Vogelherdhöhle auf der Schwäbischen Alb noch einmal unter die Lupe genommen.

Im Vogelherd gefundene, aus Mammutelfenbein geschnitzte Pferdeskulptur. Aurignacien, 30-36.000 Jahre alt (Bild: Jensen, Universität Tübingen)

Auch sie wurden bislang immer in einen eindeutigen Zusammenhang mit den ebenfalls dort gefundenen Elfenbeinfiguren und Werkzeugen aus der Zeit des frühen Aurignacien gebracht. Die Analysen mittels der Radiokarbonmethode, die am Leibniz Labor für Altersbestimmung und Isotopenforschung in Kiel durchgeführt wurden, ergaben jedoch, dass die menschlichen Knochen vom Vogelherd "nur" zwischen 3.900 und 5.000 Jahren alt sind und damit in die späte Jungsteinzeit datieren. Die Menschen, die dort bestattet wurden, gehören also keinesfalls zu den Schöpfern der berühmten Figürchen (Die Schamanen der Schwäbischen Alb) aus Mammut-Elfenbein, die zu den ältesten Zeugnissen figurativer Kunst weltweit zählen.

Frage nach den ersten Künstlern ist wieder offen

Durch diese neuerliche Untersuchung gibt es nun keine menschlichen Fossilreste mehr, die einen eindeutigen Zusammenhang früher Aurignacienfunde mit anatomisch modernen Menschen belegen, schreiben die Forscher:

Die wenigen vorhandenen menschlichen Menschenreste anderer Fundstellen weisen entweder keine Skelettmerkmale zur eindeutigen Artbestimmung auf oder stammen aus einem unsicheren Fundkontext. Die kulturelle Entwicklung am Beginn der jüngeren Altsteinzeit wird von vielen Wissenschaftlern als Hinweis auf eine revolutionäre Veränderung der geistigen Fähigkeiten verstanden in der vollentwickeltes symbolisches und damit modernes Verhalten zur Entfaltung kam. Zu diesem Zeitpunkt haben jedoch sowohl Neandertaler als auch moderne Menschen in Europa gelebt.

Mit der Neudatierung der Skelettreste aus der Vogelherdhöhle ist die Frage nach den "ersten Künstlern" wieder völlig offen. Und es ist durchaus möglich, dass der Neandertaler künstlerischer war als gedacht und dass auch er die frühe Aurignacien-Kultur mitgeprägt hat.

Südeingang des Höhlensystems Vogelherd (Bild: Jensen, Universität Tübingen)

Nach Meinung der Tübinger Forscher entkräften die jüngsten Ergebnisse auch die Argumente für die Donaukorridor-Theorie, nach der der anatomisch moderne Mensch entlang der Donau nach Schwaben einwanderte, als sich das Klima nach einer kalten, trockenen Wetterperiode langsam erwärmte. Sie lasse sich zumindest nicht mehr an der Verbindung zwischen modernem Mensch und frühem Aurignacien belegen.