Sex und Utopie

Das Jahr 2020 und die Utopie II

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Gab es eine Utopie der Sexualität? Und was könnte eine derartige Utopie eigentlich umfassen? Ein immer mehr vielleicht? Oder ein gar nicht? Immerhin sahen kommunistische religiöse Gruppen in den USA des 19. Jahrhunderts wie die Rappisten die sexuelle Utopie im Zölibat - sie starben dann auch aus. Andere utopische Forderungen kritisierten die Ehe. Im Folgenden ein kleiner Galoppritt durch die sexuelle Utopie.

In "Utopia" (aus dem Jahre 1516) heiraten die Frauen mit 18 Jahren, die Männer mit 22 Jahren. Die Ehe wird in der utopischen Gesellschaft sehr hoch gehalten, das "freie Konkubinat" hingegen bekämpft. Der Geschlechtsverkehr vor der Ehe ist verboten und wird streng bestraft. Denn, so die Begründung, wäre das anders, würde niemand mehr die Ehe eingehen und das "ganze Leben mit einem Menschen zusammen hinbringen und obendrein so manche Unannehmlichkeit ertragen, die dieses Verhältnis mit sich bringt".

Weil der Preis für die Ehe also hoch ist, wird vor der Heirat ein Termin arrangiert, bei dem sich Braut und Bräutigam nackt mustern können. Damit will man vermeiden, dass die "Ehe schlecht zusammenhält, wenn sich hinterher ein körperlicher Mangel herausstellt". Stellt sich heraus, dass die Eheleute doch nicht zusammen passen, ist eine Scheidung möglich, die aber vom Senat genehmigt werden muss. Voraus geht eine gründliche Prüfung des Falles, man will Scheidungen nicht zu leicht machen. Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei bestraft.

Im "Sonnenstaat" von Campanella (aus dem Jahre 1602) ist Sex für Frauen erst ab dem 19. Lebensjahr erlaubt, für Männer ab 21. Jüngere, die von besonderer sexueller Drangsal befallen sind, können sich beim Oberarzt eine Ausnahme-Erlaubnis für den Geschlechtsverkehr ausstellen lassen. Wer bei der Sodomie ertappt wird, muss sich zur Strafe die Schuhe zwei Tage lang um den Hals binden, bei mehreren Rückfällen droht am Ende die Todesstrafe. Wer bis zu seinem 27 Lebensjahr enthaltsam lebt, wird mit Ehrungen überhäuft.

Bei gymnastischen Spielen treten Männlein und Weiblein nackt an, so dass die "inspizierenden Amtspersonen erkennen, wer zeugungsfähig oder wer zu schwächlich für den Beischlaf ist". Dieser findet nur jede dritte Nacht nach der Mahlzeit statt. Bei der Zeugung gibt es eine Auslese, die zum Ausgleich führen soll: Schlanke Frauen mit dicken Männern, jähzornige Männer mit phlegmatischen Frauen. Unfruchtbare Frauen werden "Gemeingut der Männer". Mütter erziehen ihre Kinder in gemeinschaftlichen Gebäuden. Anscheinend gibt es im Sonnenstaat keine Ehe, Frauen scheinen vielmehr "in Hinblick auf ihre geschlechtlichen Beziehungen allen gemeinsam" zu sein.

Liebesleben in der harmonischen Gesellschaft

Für den Frühsozialisten Charles Fourier (1808) ist die Liebe die zentrale Eigenschaft. Das Liebesleben in der harmonischen Gesellschaft erkennt neben der vollständigen Emanzipation der Frau auch die sexuelle Vielfalt an, er fordert zudem ein Grundmaß an sexueller Befriedung für jeden. Die Orgie wird als natürliches Bedürfnis des Menschen verstanden, eine "kollektive Leidenschaft", in der ehrbare und regelmäßige Beziehungen geknüpft werden und es zu gefühlsmäßigen Beziehungen kommen soll.

Vorbereitet werden die Orgien durch das "Ministerium der Feen". Die Ehe ist ein "Bund der Vernunft", der vor allem im Alter eine Stütze sein soll, zwischendurch lassen sich Vereinbarungen über "Ehepausen" für einen bestimmten Zeitraum treffen.

Man kann auch die DDR als Utopieversuch auffassen: "DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus", titelte die "Bildzeitung" am 30. Mai 1990, freilich nicht ohne am nächsten Tag nachzulegen: "Der Orgasmus-Professor spinnt". Doch es gibt durchaus Indikatoren dafür, dass sich zwischen Rostock und Dresden in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR eine Art freizügiger und befreiter Sexualität entwickelte.

In den 1970er Jahren begannen die DDR-Bürger, sich Freiräume zu erobern, ein Zeichen dafür war die um sich greifende FKK-Kultur, Nacktbaden wurde zur Regel. 1988 zeigte eine vergleichende Studie über die sexuellen Erfahrungen von Studentinnen in Ost und West, dass "die ostdeutschen Frauen mehr Spaß am Sex hatten und häufiger einen Orgasmus erlebten als ihre westdeutschen Geschlechtsgenossinnen". Als Ursache dafür wurden das Fehlen von Existenzängsten und die Unabhängigkeit der Frauen genannt.

Nebeneinander vom Hypersexualisierung und verbreiteter Lustlosigkeit"

Und nun 2020? Was ist aus den Utopien geworden? Das Bild ist äußerst heterogen. Unzweifelhaft ist eine Liberalisierung im Bereich der Sexualität festzustellen, von der in Teilen gelungenen Emanzipation der Frau bis hin zur juristischen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Aber diese emanzipatorischen Momente sind auch begleitet von völlig veränderten Rahmenbedingungen, wobei die Flut pornografischer Bilder im Internet zu den markantesten gehört.

Einer der Folgen scheint dabei das "Nebeneinander vom Hypersexualisierung und verbreiteter Lustlosigkeit" zu sein, so der Sexualwissenschaftler Volker Sigusch. Während noch nie so viel pornografisches und erotisches Material konsumiert wurde, scheint der Reiz der Sexualität (mit anderen Menschen) nachzulassen.

Ein Beispiel dafür gibt Japan, 2016 gaben dort 42 Prozent der unverheirateten Männer in der Altersgruppe zwischen 18 und 34 Jahren an, noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben und 44,2 Prozent der unverheirateten Frauen sind noch jungfräulich. Für den Sexualwissenschaftler Sigusch oszilliert das Sexualleben der jungen Generation heute "zwischen romantischer Treue in intimen Beziehungen und schrillen Selbstinszenierungen auf öffentlichen Liebesparaden". Klar aber auch: "Die Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig."

Teil 1 : Was von der Zukunft der Vergangenheit geblieben ist

Folgt: Das Jahr 2020 und die Utopie III - Essen als die neue Religion

Die Artikelserie basiert auf dem neuesten Buch von Rudolf Stumberger: Utopie konkret - und was daraus geworden ist. Alibri-Verlag 2019. Darin werden die Zukunftsvorstellungen seit Thomas Morus‘ "Utopia" von 1516 auf konkrete Aussagen zu Lebensbereichen wie Sexualität oder Wohnen hin untersucht und mit der heutigen Realität verglichen.