Sexed up?

Seit mittlerweile vier Wochen liefern sich in Großbritannien die Labourregierung und der öffentliche Rundfunk BBC einen Machtkampf, dessen Ausgang noch immer ungewiss ist. Die Frage, ob der Irakkrieg gerechtfertigt war oder nicht, wird dabei durch den zunehmend absurden Streit fast verdeckt.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ein Café im Londoner Edelstadtteil South Kensington. An die Wand gebeamt laufen Nachrichten. Die BBC berichtet über sich selbst. Als einziger Ausländer am Tisch lausche ich einmal mehr fasziniert der neuesten Wendung im Streit zwischen dem Medienriesen und der britischen Labourregierung um die Frage, ob und, wenn ja, wie das erste jener zwei mittlerweile legendären Irak-Dossiers von der britischen Regierung "aufgesext" ("sexed up") wurde mit dem Ziel, die Bevölkerung kriegsfreudiger zu stimmen. Die Engländer am Tisch verdrehen genervt die Augen.

Völlig unabhängig vom Ausgang des von den allermeisten Briten als herzlich überflüssig angesehenen Sommertheaters hat Tony Blair ein Glaubwürdigkeitsproblem, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum dieser Streit weiter und immer weiter geht. Erst gestern erklomm die Debatte neue groteske Höhen.

Die Vierte Macht gegen den "Sultan of Spin"

Alles begann Ende Mai mit einem Interview (Audiofile) des Moderators der allmorgendlichen Nachrichtensendung "Today" auf BBC Radio 4 mit dem BBC-Verteidigungskorrespondenten Andrew Gilligan.

Gilligan hatte mit einer ungenannten "Quelle" gesprochen, die vor dem Irakkrieg offensichtlich Zugang zu Geheimdienstmaterial hatte. Diese "Quelle" habe ihm nahe gelegt, dass eine der zentralen Botschaften von Tony Blairs erstem, im September 2002 veröffentlichtem Irak-Dossier (Beweise jenseits allen Zweifels ...), nämlich die Behauptung, Saddam Hussein könne innerhalb von 45 Minuten Massenvernichtungswaffen zum Einsatz bringen, nachträglich und gegen den Willen der Geheimdienste eingefügt worden sei. Eine schwere Anschuldigung, keine Frage.

Nun hält sich Tony Blair einen Öffentlichkeitsexperten namens Alastair Campbell, ein ehemaliger Boulevardjournalist, der als Mitbegründer, wenn nicht sogar als Gehirn von "New Labour" gilt. Er ist so mächtig, dass er in den Medien regelmäßig entweder "heimlicher Vizepremier" oder "Darth Vader of Spin" genannt wird. Als Reaktion auf Gilligans Aussagen startete dieser Alastair Campbell offensichtlich einen Briefwechsel mit der Führungsetage der BBC, der jedoch eine Weile geheim blieb, bis sich Campbell schließlich Mitte Juni mit einem ziemlich beispiellosen Ultimatum an die Öffentlichkeit wandte.

Campbell: Ich erwarte Antwort bis heute Abend

Es bestand in einem offenen Brief, in dem Campbell eine ganze Reihe Fragen zu Gilligans Behauptungen und dessen Quellen stellte. Er beschuldigte die BBC, ihre eigenen journalistischen Standards sträflich ignoriert zu haben und verlangte eine schriftliche Antwort nebst Entschuldigung innerhalb von weniger als einem Tag. Wenig überraschend erteilte die BBC ihm eine Abfuhr. Seither köchelt der Streit und nimmt alle zwei Tage eine neue Wendung.

Zwischenzeitlich wurde der öffentliche Druck so stark, dass die Regierung nach einigem Ringen einer parlamentarischen Untersuchungskommission zustimmte, die die Anschuldigungen Gilligans untersuchen sollte. Das Ergebnis dieser Bemühungen wurde am Montag dieser Woche verkündet und dient seither beiden Seiten als Bestätigung ihrer jeweiligen Standpunkte.

Die britische Irakpolitik: "Very odd indeed"

Vordergründig entlastet der Bericht Campbell von dem Vorwurf des "Aufsexens". Campbell hatte sowohl das erste Irakdossier mit dem 45-Minuten-Zitat als auch das zweite, das sogenannte "dodgy dossier" vom Februar 2003 (Geheime Cut-and-Paste-Informationen), maßgeblich mitformuliert (Das verräterische Microsoft-Dossier). Diese Entlastung war erwartet worden, weil sich bereits zuvor sämtliche leitenden Geheimdienstler in der 45-Minuten-Sache öffentlich hinter die Regierung gestellt hatten.

Im Grunde aber ist der Bericht der Kommission ein Desaster für Blair und Campbell, denn er kommt zu dem Schluss, dass es weiter unklar sei, ob die Regierung sich bei der Zusammenstellung des Septemberdossiers korrekt verhalten habe. Das Verhalten der Regierung sei "very odd indeed" (in der Tat sehr merkwürdig) und "The jury is still out" (das letzte Wort ist noch nicht gesprochen) heißen die entscheidenden Sätze im Wortlaut. Sie werden von der BBC seither wieder und wieder zitiert.

Das Verteidigungsministerium findet einen Maulwurf. Die BBC schweigt

Richtig interessant wurde es aber erst am späten Montag, als durchsickerte, dass sich ein Angestellter des Verteidigungsministeriums in der vorigen Woche reumütig bei seinem Chef, dem Verteidigungsminister Geoff Hoon, gemeldet hatte, und zwar mit dem kleinlauten Bekenntnis, er habe sich mit dem BBC-Reporter Andrew Gilligan eine Woche vor dem am 29. Mai gesendeten Interview in einem Londoner Café getroffen. Über die 45-Minuten-Causa habe er aber nicht mit ihm gesprochen (offizielles Maulwurf-Statement des Verteidigungsministeriums). Es scheint sich um einen mittleren Beamten mit mäßiger Irakkenntnis zu handeln. Genaueres ist noch nicht bekannt.

Hoon verlangte daraufhin von der BBC in einem Brief, sie solle gefälligst ihre Quelle nennen, was die BBC am Dienstag ablehnte. Der Gedanke Hoons war es offensichtlich, die BBC öffentlich zu blamieren, wenn sie zugeben muss, dass ihre "hochrangige Geheimdienstquelle" nur ein mittlerer Beamter im Verteidigungsministerium war.

Nach der ersten BBC-Ablehnung ging Hoon gestern Mittag erneut in die Offensive und schickte der BBC in einem weiteren Brief den Namen des angeblichen "Maulwurfs" mit der Aufforderung an den BBC-Granden Gavyn Davies, er solle jetzt bitte ja oder nein sagen. Davies ließ sich daraufhin zitieren mit dem Satz, die ganze Sache werde zu einer Farce, und er denke gar nicht daran, die Quelle preiszugeben oder auch sonst nur einen Schritt auf die Regierung zuzugehen.

Die Haltung der BBC ist die große Konstante in dem ganzen Theater. Von anfänglichen doppeldeutigen Äußerungen abgesehen hat die Organisation nie gesagt, dass Gilligans Behauptung des "Aufsexens" wahr sei. Sie steht allerdings zu dem Bericht Gilligans insofern, als sie sagt, es sei richtig gewesen, ihn zu senden, als die Debatte ohnehin am Kochen war, auch wenn er sich nur (entgegen den von der BBC sonst vertretenen journalistischen Prinzipien) auf eine einzelne Quelle stützte.

Die ganze Geschichte wäre vielleicht nie so ausgeartet, wenn das Verhältnis zwischen BBC und New Labour nicht ohnehin schon gestört gewesen wäre. Insbesondere Alastair Campbell gilt als einer der Lieblingsfeinde der BBC-Nachrichtenredaktion.

Viele Briten sind weder mit der BBC noch mit New Labour einverstanden

Die Berichterstattung der BBC nach dem Golfkrieg wird von vielen in England sehr, sehr kritisch gesehen. In der Tat hat sich gerade Radio 4 weit aus dem Fenster gelehnt, und wer sich Ende Mai, Anfang Juni als Ausländer morgens das Today-Programm angehört hatte, dem konnte die Kinnlade runterklappen. Mit einer im deutschen öffentlichen Rundfunk unvorstellbaren Hartnäckigkeit wurde ein Regierungsmitglied nach dem anderen auf das Thema Massenvernichtungswaffen angesprochen. Jede Gummiantwort wurde von den Moderatoren gnadenlos zerpflückt, was mehrfach in Wutanfällen der jeweiligen Interviewpartner gipfelte. Dennoch verstehen wenige, wofür sich die BBC in dem konkreten Fall des Gilligan-Reports entschuldigen soll, auf den sich die Labourregierung so eingeschossen hat.

Ist der Zoff nur ein geschicktes Ablenkungsmanöver?

Es gibt deswegen Stimmen in der linken Presse, vom Guardian bis zum Daily Mirror, die behaupten, der eigentliche Grund, warum die Regierung die Sache immer weiter am Kochen halte, liege darin, dass ihr das ganze öffentliche Theater letztlich Recht sei. Einige halten den seit vier Wochen sich hinziehenden Streit sogar für einen weiteren Geniestreich Campbells, dem es damit gelungen sei, der eigentlich brisanten Frage auszuweichen, nämlich ob die britische Regierung ihr Land in einen ungerechtfertigten Krieg getrieben habe.

Campbell ist es auch auf erstaunliche Weise gelungen, Tony Blair aus der Schusslinie zu nehmen. Er hat in einer windelweichen Entschuldigung (Videolink) die Verantwortung für das zweite Irakdossier, das "dodgy dossier", auf sich genommen, indem er vor dem House of Commons behauptete, Blair habe von der Herkunft des Dossiers nichts gewusst. Im "dodgy dossier" hatte Campbell im Februar Material aus einer zwölf Jahre alten Studentenarbeit zu einem Dokument zusammen geschustert, das dann als Geheimdienstmaterial den Parlamentariern ausgehändigt worden war. Blair selber sind bis heute zu diesem Dossier, das viele für einen viel größeren Skandal als das Septemberdossier halten, keine Worte des Bedauerns über die Lippen gekommen.

Blairs Probleme sind allerdings ohnehin groß genug. Die Umfragewerte seiner Labourregierung sind trotz einer wenig überzeugenden Opposition so schlecht wie noch nie. Blair wird zunehmend als selbstherrlicher Möchtegern-Monarch wahrgenommen, und er tut wenig, dem entgegen zu treten.

Vor zwei Wochen gelang Blair das Kunststück, eine Verfassungsreform zu versieben, die neunzig Prozent der Briten inklusive der kompletten parlamentarischen Opposition eigentlich richtig finden, nämlich die Abschaffung des so genannten Lordkanzlers. Das Amt besteht seit über tausend Jahren und wird seit mindestens 50 Jahren für anachronistisch gehalten. Blair nun entschied sich dafür, das Ende dieser Institution eines Donnerstagabends um 17 Uhr 30 auf einer kurz vorher anberaumten Pressekonferenz bekannt zu geben, ohne mit irgendjemanden vorher darüber auch nur gesprochen zu haben. "Ludwig der Vierzehnte" war noch einer der netteren Pressekommentare tags darauf.