Beweise jenseits allen Zweifels ...
Das britische Geheimdienstdossier über das aktuelle Waffenarsenal des Irak
Die Beweise, die ihm britische Geheimdienste in den letzten Monaten über Saddam Husseins Aktivitäten hinterbracht haben, hätten ihn zunehmend alarmiert, schreibt der britische Premierminister Tony Blair im Vorwort des Dossiers über Beweise für Iraks Massenvernichtungswaffen, dessen Veröffentlichung lange angekündigt und aus Geheimhaltungsgründen immer wieder verschoben wurde. Jetzt kann es jeder im Internet lesen und sich fragen, wie es um die Nerven des engsten Alliierten von George W. Bush bestellt ist. Denn der Bericht enthüllt kaum neue Fakten, nur neue, schrillere Schlüsse aus Mutmaßungen, die nicht erst seit heute im Umlauf sind.
Die neuen Fakten sind schnell aufgezählt. Der Irak habe versucht, sich in Afrika eine signifikante Menge Uran zu verschaffen. Saddam Hussein könne, bliebe er ungestört, binnen ein bis zwei Jahren Nuklearwaffen entwickeln. "Double-use"-fähige Chemiefabriken seien wieder- bzw. neu aufgebaut worden, die Reichweite vorhandener Raketensysteme wurde erheblich gesteigert, und es gäbe Indizien dafür, dass mobile Labors für die Herstellung von biologischen und chemischen Waffen entwickelt wurden.
Die spektakulärste Erkenntnis des britischen Geheimdienstes wird wohl weltweit Schlagzeilen machen: Der Irak sei fähig, einen Teil seiner biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen innerhalb von 45 Minuten einzusetzen.
Erschreckende Schlüsse, die im Bericht von materialreichen, äußerst detaillierten, über Jahre hinweg beobachteten Indizien unterlegt werden. Seit die Waffeninspektoren den Irak 1998 verlassen mussten, gibt es aber keine eindeutigen Beweise dafür, dass Saddam Hussein seine Waffenprogramme weiterbetreibt. Der Bericht liefert sie trotz der vollmundigen Ankündigung Blairs im Vorfeld der Veröffentlichung (und im Vorwort des Berichts) auch nicht. Das betont auch der für Außenpolitik zuständige liberaldemokratische Abgeordnete Menzies Campbell: "Beim ersten Anblick scheint das Dossier keine klaren Beweise für eine unmittelbare und drohende Gefahr des Irak zu liefern. Nichts in diesem Dokument sollte uns davon ablenken, uns über die Vereinte Nationen mit diesem Thema zu beschäftigen."
Bekanntlich muss Blair mit seinen "Beweisen" für einen möglichen Militärschlag auch mit starker Opposition aus der eigenen Partei rechnen. So bezeichnete die Labour-Abgeordnete Diane Abbott das Dossier als einen Reinfall (damp squib) und als einen Werbegag (PR stunt). Clare Short, Staatssekretärin für Internationale Beziehungen, kritisierte bereits gestern die Vorbereitungen auf einen neuen Golfkrieg, vor allem aber die Bush-Rhetorik, "dass wir die Guten und sie die Bösen sind, und dass wir um die Welt gehen und jeden zusammenbomben können, der uns im Weg steht".
Major Charles Heyman, der Herausgeber von Jane's World Armies, ist ebenfalls der Meinung, dass das Dossier keine neuen und vor allem keine schlagenden Beweise liefert: "Aber es stellt einen sehr überzeugende Beweislage dafür vor, dass Waffeninspektoren sehr schnell wieder in den Irak gehen müssen."
Der britische Außenminister zog in seiner Rede vor dem Unterhaus einen Vergleich zwischen Hussein und Adolf Hitler, wie er in den 30er Jahren an die Macht kam. Diplomatie habe nur dann Erfolg, wenn sie mit der klaren Aussicht verbunden sei, zu den Waffen zu greifen, wenn sie scheitern sollte. In der Debatte schien sich, jenseits der Beweiskraft des Dossiers, jedoch die Haltung durchzusetzen, die Regierung bei dem Unternehmen zu unterstützen, eine neue und scharfe Resolution im Sicherheitsrat durchzusetzen. Darauf läuft die Strategie von Bush/Blair auch zu, denn mit scharfen Auflagen dürfte sich auch ein Weg finden lassen, den Irak der Verletzung der Resolution zu bezichtigen, wenn es denn gewünscht ist.
What I believe (!) the assessed intelligence has established beyond doubt (!) is that Saddam has continued to produce chemical and biological weapons, that he continues in his efforts to develop nuclear weapons, and that he has been able to extend the range of his ballistic missile programme. I also believe that, as stated in the document, Saddam will now do his utmost to try to conceal his weapons from UN inspectors
Tony Blair
Eine eigentümliche Rhetorik, die zugleich Vorsicht und Emphase bemüht. Das 50 Seiten starke Dokument liefert dem interessierten Leser bislang unbekannte Satelliten-Fotos von neuen Fabrikanlagen im Irak, sehr detaillierte Informationen über die ballistischen Raketensysteme des Irak, eine Menge Aufklärung über das ehemalige chemische und biologische Waffenprogramm, soweit es die UNSCOM-Inspekteure kennen gelernt haben, und sehr viele Schlussfolgerungen, die britischen Geheimdienste aus diesem Material gewonnen haben - vor allem die eine: Dass Saddam Hussein gefährlicher ist denn je.
US-Präsident Bush begrüßte den Bericht und forderte den Sicherheitsrat auf, aufgrund der neuen Beweise nun schnell eine "scharfe Resolution, um diesen Mann zur Rechenschaft zu ziehen", zu verabschieden: "Wenn sie das nicht leisten können, werden die USA und unsere Freunde handeln, weil wir an den Frieden glauben. Wir trauen diesem Mann nicht, und das führte der Bericht von Blair heute vor Augen."
Der Irak bezeichnete das Dossier erwartungsgemäß als Lügenwerk. Auf einer Pressekonferenz sagte General Amir al-Saadi, der einer der obersten Leiter des irakischen Rüstungsprogramms war, dass die Beweise ein "Gemenge aus Halbwahrheiten, Lügen, kurzsichtigen und naiven Behauptungen sind, die auch eine kurzen Überprüfung durch kompetente und unabhängige Experten in den einzelnen Bereichen nicht standhalten". Die demnächst eintreffenden UN-Waffeninspektoren hätten weiterhin ungehinderten Zugang zu allen Orten. Großbritannien solle den Inspektoren das Dossier zur Verifizierung geben. Dann käme bald die Wahrheit heraus.