"Sicheres Internet"
Wie eine Sportwebseite zu Pornographie umgemünzt wurde
Als der Entwurf zum Jugendmedien-Staatsvertrag in buchstäblich letzter Minute gekippt wurde, ging ein Aufatmen durch die sogenannte "Netzgemeinde". Wenigstens nebulös zu nennende Vorschriften, von einer unklaren Einstufung in Altersklassen bis hin zur Angabepflicht von Jugendschutzbeauftragten im Impressum, drohten auch nach Ansicht von Juristen zu einer Flut von Abmahnungen und zu allgemeiner Rechtsunsicherheit zu führen, bei wenigstens zweifelhaftem Nutzen für die Sache selbst: Den Jugendschutz.
Das Gespenst des JMStV mag vorerst gebannt sein. Jugendschutzbestimmungen gab es jedoch bereits vorher, und der Blick richtet sich nun wieder auf Filter-Angebote privater Firmen, die ein "sicheres Internet" für Kinder und Jugendliche versprechen.
Solche Schutzprogramme laufen nicht nur auf den Rechnern von besorgten Eltern. Sie werden von Privatanbietern auch Schulen zum Einsatz angeboten; über Filterlisten soll gewährleistet werden, daß die Schülerinnen und Schüler nur altersgerechte, oder wenigstens keine jugendgefährdenden Inhalte übers schuleigene Netzwerk abrufen können. Dazu arbeiten manche Anbieter mit Kategorien, von harmlosen wie "Wissenschaft" oder "Sport" bis hin zu kritischen wie "Gewalt" und "Pornographie". Anstelle eines Inhalts wird bei letzteren dann eine Hinweisseite angezeigt, daß die Webseite jener Kategorie zugeteilt worden und daher der Zugriff gesperrt sei.
Was eingängig klingt, kann jedoch in der Praxis ernstzunehmende Folgen nach sich ziehen. Dies konnte der Schüler Andreas C. (Name geändert) im Herbst vergangenen Jahres beobachten. Er ist Anhänger einer ungewöhnlichen und neuartigen Sportart. Als er versuchte, in seiner Schule in Nordrhein-Westphalen zwei Internetseiten dieser Sportart aufzurufen, blickte er überrascht auf eine Sperrseite: Die Inhalte gehören zu den Themen "Gewalt (extrem)" und sogar "Gewalt, Pornographie". Dabei ist die eine die deutsche Informationsseite über den Sport, die andere die zentrale Webseite der australischen Spieler.
Eine Sportwebseite, die wegen Pornographie gesperrt ist? Die Lösung mag in der Sportart liegen: Es handelt sich um Jugger, einen äußerlich brachial anmutenden "Endzeit-Sport", bei dem die Teams ihren Ballträger mit gepolsterten Stangen beschützen müssen, der aber zugleich so harmlos ist, daß er inzwischen auch an zahlreichen Schulen und Universitäten gespielt wird. Damit ist ein Hinweis auf den Grund für "Gewalt" gegeben: Ein oberflächlicher Blick mag hier zu einer raschen Vorverurteilung geführt haben. Der Ursprung der Zuordnung "Pornographie" dürfte wiederum einem noch bizarreren Grund geschuldet sein: Dem Namen. "Juggs", das bezeichnet im angloamerikanischen Raum umgangssprachlich die weibliche Brust, insbesondere im erotischen Kontext. "Jugg" wiederum wird der ungewöhnliche Ball im Jugger von einem Teil der Sportlergemeinde genannt.
Ohne das Wissen der Seitenbetreiber waren ihre Seiten, und damit eine ganze Sportart, hier in den Bereich der Gewaltverherrlichung und Pornographie gerückt worden udn hätten zweifellos das Interesse eines Lehrers geweckt, wenn er zufällig die Sperrseiten auf dem Rechner des Schülers gesehen hätte. Der Betreiber des an der Schule eingesetzten Filterservices Time for Kids bietet zahlreiche "Schulfilter"-Varianten an, brüstet sich auf seiner Webseite damit, an "über 600 Schulen" bereits Pilotprojekte zu machen und zeigt ein Schild mit der Aufschrift "Musterland Bayern. Eine Initiative für ein sauberes Internet an bayerischen Schulen".
Hingegen konnte im Hauptmenü kein Verweis auf die personelle Zusammensetzung der Firma oder die Art der Entscheidungsprozesse gefunden werden; allein zwei Geschäftsführer finden sich über das Impressum, sowie der Firmensitz in Berlin (Stand Februar 2011). Für eine Stellungnahme, wie es zu den massiven Fehleinschätzungen gekommen war, war die Firma weder per Mail, noch per Briefpost zu bewegen. Die Zuordnung immerhin wurde stillschweigend korrigiert und beide Angebote sind nun unter "Sport" auch an Schulen erreichbar.
Nun mag eingewendet werden, daß es sich um zwei exotische Einzelfälle handele. Das Problem als solches ist jedoch ein ganz grundlegendes: Es geht einher mit erheblichen Möglichkeiten zu Diffamierung und übler Nachrede. Ein Vertreter der Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM) äußerte sich in einer Stellungnahme: "Wegen der ... unendlichen Anzahl von Websites werden viele Angebote auch automatisch bewertet ... Dass dies nicht immer zutreffend sein kann, liegt in der Natur der Sache."
Erfolgt die Bewertung per Vorschlag, kann theoretisch fast jeder Webseitenbetreiber Ziel einer Verleumdung werden: Durch Missverständnisse oder Vorsatz wird seine Webseite als anstößig gemeldet und könnte dann, wie im vorliegenden Falle (sei dieser nun auf zufällige Versortierung oder Falschmeldung zurückzuführen) dann entsprechend gebrandmarkt werden - alles ohne Wissen des Betreibers. Dem Mißbrauch und der Willkür wäre damit Tür und Tor geöffnet, zumal selbst die FSM im angeführten Beispiel auf die Einstufung durch die besagte Internetfirma auch "keinen Einfluss" habe; sed quis custodiet ipsos custodes, insbesondere wenn man als Privatperson oder kleiner Verein kein Geld für einen Prozeß hat und der Filterservice sich stur stellen sollte? Als Ausweg verweist die FSM stattdessen ausgerechnet auf den - nach dem Zeitpunkt der Korrespondenz gescheiterten - Jugendmedienstaatsvertrag, der "die Möglichkeit vor[sieht], dass Inhalte-Anbieter ihre Seiten mit einer Altersstufe kennzeichnen, um Jugendschutzprogrammen eine treffsichere Entscheidung zu ermöglichen". Dass diese Kennzeichnung nicht einfach gewesen wäre, ergibt sich aus den nächsten Sätzen, wo die FSM feststellt, das Angebot könne "nicht völlig harmlos und deshalb etwa mit 'ab 0 Jahren'" zu kennzeichnen sein, aber "das hängt von der jugendschutzrechtlichen Bewertung im Einzelfall ab". Sprich: Selbst die FSM zieht sich hier auf eine weit auslegbare, wohl höchstens "Abmahnanwälte" erfreuende Gesetzgebung zurück. Und selbst diese ist inzwischen wie gesagt hinfällig geworden.
Was anstelle des JMStV nun geschieht, bleibt abzuwarten. Zu befürchten ist, daß Vorurteile, persönliche Moralvorstellungen, das gezielte Verschleiern mittels Reflexschlagwörtern des Populismus, der Angst und Inkompetenz und geschicktes Gewinn- und Machtstreben den Weg zu einem sogenannten "sicheren" Internet weisen werden.
"Zeit für Kinder": Das ist wahrhaftig das, was unsere Kinder zum Umgang mit Neuen Medien benötigen. Aber nicht in Gestalt privater Online-Moralwächter, sondern in Gestalt von mehr Zeit für Kinder, in Gestalt von Aufklärung über und Fitmachen für den Umgang mit den Neuen Medien. Auch dafür gibt es bereits zahlreiche durchaus sehr positive Angebote im Netz. So schaffen wir eine nachhaltigeren Schutz als jede technische Sperre. Aber auch sonst muß die Politik der Verantwortung gerecht werden, nicht nur Sperren zu errichten, sondern dann mindestens auch dafür Sorge zu tragen, daß diese Sperren nicht einfach nach persönlichem Gefallen oder durch Fahrlässigkeit mißbraucht werden können.
Ruben Wickenhäuser, Publizist, ist u.a. Mitherausgeber des Bandes "Orte der Wirklichkeit", Springer Wissenschaft 2010, wo sowohl Akteure des Jugendschutzes, als auch andere Experten über Neue Medien zu Wort kommen. Er veröffentlichte im Archiv der Jugendkulturen 2010 das zweite Sachbuch über den Sport Jugger.