"Sie konnten Ihre Identität nicht nachweisen"
Seite 3: Schuld sind Merkel und das Selfie
Am bedrohlichsten ist immer das, was man nicht kennt. Minister de Maizières Phantasiekonstrukt vom Flüchtling, der im Taxi quer durch Deutschland fährt, kam bei Teilen des Publikums gut an, weil es so schön in das Klischee vom Fremden passt, der auf unsere Kosten hier leben will, obwohl er sich solche Extravaganzen wie eine Taxifahrt leisten kann. Meiner Beobachtung nach fokussiert sich das im Smartphone der Flüchtlinge. Wie immer hängt die Bedeutung vom Kontext ab. Wenn man einem real existierenden Flüchtling begegnet, der in gespendeten Klamotten vor einem sitzt und mit der S-Bahn zu seinem Bett in der Traglufthalle fährt, könnte man glatt auf die Idee kommen, dass das womöglich ein armer Mensch ist, dem außer dem Smartphone in der Hand nicht viel geblieben ist. Das mobile Telefon ist dann die einzige Verbindung zu den Freunden und Verwandten im "Herkunftsland" (auch so ein Bürokratenwort), die noch am Leben sind.
Anhand des Smartphones könnte man von einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem erzählen, in dem es neben den gern beschworenen ideellen Werten an der Börse notierte, halb in der realen und halb in der virtuellen Welt operierende Finanzdienstleister gibt, die mit den Ärmsten der Armen Kasse machen, weil Flüchtlinge Schlepper bezahlen müssen und es sich empfiehlt, nur wenig Bargeld dabei zu haben, denn auf dem Weg nach Deutschland gibt es gut organisierte, auf das Ausrauben der Flüchtlinge spezialisierte Banden. Beim Phantasiekonstrukt vom Flüchtling wird die Welt, die immer furchtbar kompliziert ist, viel einfacher, und die Fragen, die sich stellen, sind ganz andere. Wo hat der das Geld für das Smartphone her? Wen ruft er an? Wie viele wird er nachholen? Und was, fragen ältere Leute mit Festnetzanschluss, ist das eigentlich, ein Smartphone?
Das Smartphone ist ein Symbol der globalisierten Welt. Es steht auch für das Ende der Illusion, dass man den freien Fluss der Waren garantieren kann, der unseren Wohlstand sichert, und den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr, die Menschen aber draußen halten kann. Es steht für einen Krieg, der uns nicht weiter interessiert hat, bis er vor unserer Tür stand, in Gestalt der Flüchtlinge mit dem Mobiltelefon in der Hand. Derzeit erleben wir täglich die Ohnmacht der Entscheidungsträger angesichts einer Situation, auf die wir überhaupt nicht vorbereitet waren. Das schreit geradezu nach der einfachen Lösung. Die Populisten aller Lager sollten Angela Merkel Kränze dafür winden, dass sie bereit war, ein freundliches Gesicht zu zeigen und sich neben Flüchtlingen zum Selfie aufzustellen, was den Talkshows noch immer schöne Bilder für die Einspielfilmchen liefert. Wenn sie das nicht gemacht hätte, sagen die Populisten, dann wäre es nicht so gekommen, wie es jetzt ist.
Die Welt ist widersprüchlich und komplex. Also greift man Elemente aus ihr heraus, die man so verbindet, dass eine Geschichte daraus wird, die einem die Illusion von Ordnung und Einfachheit vermittelt. Im allgemeinen Durcheinander hat das etwas Beruhigendes, weil ein ganzes Bündel von Ursachen auf die eine reduziert wird, was das Problem so schön eindimensional und überschaubar macht (solange man nicht selber in die Lage kommt, es lösen zu müssen). Wenn so etwas gewünscht wird ist mir das recht. Jeder darf denken, was er will. So sollte es auch bleiben. Ohne Geschichten geht es nicht. Wer auf die Welt in ihrer ganzen Vielfalt starrt und sich nicht entscheiden kann, was davon er für sich herauspicken soll, leidet an Cosmopsis wie Jacob Horner (siehe den Anfang von Teil 1) und bleibt wie gelähmt am Bahnsteig sitzen, ohne je loszufahren. Das kann nicht der Zweck der Übung sein.
Mich stört an der Geschichte von Merkel und den Selfies nur das eine: Sie wird so oft von Leuten erzählt, zu deren Selbstbild es gehört, dass sie die einzig wahren und echten Patrioten sind. Ein Patriot ist jemand, der seine Heimat liebt (wer die Heimat vorzugsweise darüber definiert, wer oder was nicht in sie hinein darf, ist ein Chauvinist). Was für ein Bild von der Heimat haben Leute, in deren Merkel-ist-schuld-Geschichte Flüchtlinge nach Deutschland wollen, weil eine Frau mit hängenden Mundwinkeln ein Selfie mit ihnen macht und nicht, weil das ein wohlhabendes und demokratisches Land ist, ein Rechtsstaat mit Religions- und Meinungsfreiheit, einem Grundgesetz, um das uns andere beneiden und Bewohnern, die gelernt haben, die Menschenwürde zu achten (wenn sie keine Nazis sind)? Mir missfällt einiges an diesem Land, nicht nur die Auswüchse beim perfekt durchregulierten Jugendschutz. Umso erstaunter stelle ich fest, dass ich offenbar eine viel positivere Meinung von Deutschland habe als die Patrioten. Da bleibe ich doch besser Filmliebhaber.
Bestimmt gibt es Flüchtlinge, die sich auf den Weg machten, nachdem sie eines dieser Selfies gesehen hatten. Aber ist das Selfie deshalb schon die Ursache? Internationale Organisationen wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen warnten Jahre vorher vor genau der Situation, mit der wir jetzt konfrontiert sind. In diesen Warnungen ging es um sinkende Grundwasserspiegel, Dürren und Hungersnöte, ausgelöst durch die von uns mit dem Wort "Wandel" beschönigte Klimakatastrophe. Es war die Rede von Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen, weil sie dort verfolgt, gefoltert, vergewaltigt, ausgebombt oder getötet werden, und von solchen, die in Lagern leben, wo die Kinder nicht zur Schule gehen können und hungern müssen, weil reiche Länder das Geld für die Lebensmittelrationen gekürzt haben. Ausgehend von früheren Flüchtlingskrisen, von denen wir nicht viel mitkriegten, weil sie sich auf anderen Kontinenten abspielten, gibt es Berechnungen, wie lange es im Durchschnitt dauert, bis ein Flüchtling im Lager die Hoffnung verliert, je in seine Heimat zurückkehren zu können und wie viel Zeit dann noch verstreicht, bis er aufbricht, um sich einen neuen Platz zu suchen, wo er mit seiner Familie leben kann. Diese Berechnungen haben sich als sehr präzise erwiesen. Wer behauptet, dass er nicht wissen konnte, was passieren würde, wollte es nicht wissen oder hat sich nicht rechtzeitig informiert. So gesehen ist die Merkel-ist-schuld-Geschichte sogar für Merkel gut, weil sie dann nicht gefragt wird, was die von ihr geführten Regierungen bisher unter vorausschauender Politik verstanden. Damit meine ich ausdrücklich nicht die Einführung eines Selfie-Verbots zur Bekämpfung der Fluchtursachen.
Gefährliche Bilder
Die Verschiebung bei der Gewichtung der Fluchtursachen, die in dieser Selfie-Geschichte zum Ausdruck kommt, ist doch irgendwie grotesk. Ich glaube, dass sie ihre Wirkmächtigkeit nicht zuletzt der Tatsache verdankt, dass in ihr neben Flüchtlingsmutti Merkel und dem fremden Mann eben auch das Smartphone eine tragende Rolle spielt. Ohne das Smartphone gäbe es das Selfie nicht und ohne das Smartphone könnte der Flüchtling sein Selfie nicht nach Hause schicken oder in das Lager in der Türkei, damit die Angehörigen wissen, wohin sie von Griechenland aus weiterreisen sollen, wenn sie vorher nicht im Mittelmeer ertrunken sind. Das Smartphone markiert die Schnittstelle zwischen der analogen und der digitalen Welt, zwischen Deutschland und den Ländern, in denen Krieg, Verfolgung und Hunger herrschen. Und dann klauen die Marokkaner auch noch blonden deutschen Frauen das Smartphone, mit dem diese den Kölner Dom photographieren wollen. Das ist doch alles sehr verwirrend und beängstigend.
In unruhigen Zeiten, in denen Neues auf das Vertraute trifft, in dem man sich eingerichtet hat, ist es häufig so, dass sich Ängste an technischen Innovationen festmachen. Diffuse Bedrohungsgefühle finden so ein konkretes Objekt, von dem die Gefahr ausgeht. Mediengeschichtlich betrachtet ist das ein alter Hut. Das jeweils neueste Medium, das den Etablierten fremder ist als andere, gilt als das bedrohlichste und wird darum am stärksten bekämpft, und das Visuelle war sowieso schon immer unheimlich, weil da Abbild und Wirklichkeit, lebende und tote Materie in eine Beziehung treten, deren Grenzen mitunter fließend sind. Die Gefährlichkeit des bewegten, im Kino projizierten Filmbildes ließ merklich nach, als die Videokassette und die DVD den Markt für visuelle Medien eroberten. Das mit der DVD verknüpfte Empörungspotential verlor an Kraft, als der Teufel das Computerspiel erfunden hatte. Nach der Einführung des Fernsehens entdeckten vor dem Untergang des Abendlandes warnende Kulturkritiker die ihnen bislang verborgen gebliebenen Vorzüge des Kinofilms. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließen dieselben Traditionalisten, die lautstark ein Verbot des Films gefordert hatten, diesen plötzlich hochleben, weil die Avantgarde Einzug in den Theatern hielt. Der soeben noch verteufelte Film galt nun als das ideale Speichermedium für die Bühnenpraxis des 19. Jahrhunderts, die in Gefahr war, von der Moderne verdrängt zu werden. Gefährlich wird es immer, wenn das Fremde kommt, das man noch nicht kennt und zur Sicherheit erst mal ablehnt.
Das frühe Kino hatte einige für die Verfechter der Leitkultur schockierende Eigenschaften. Es war kein rechtsfreier Raum wie von vielen Kommentatoren beklagt, wohl aber einer der gefühlten Anarchie, wenn man von der Warte des ordnungsliebenden Bürgertums aus urteilte. Das lag am Fehlen der gewohnten Konventionen. Bei Innovationen ist das immer so. Das Establishment braucht eine Weile, bis es auf das Neue reagiert und versucht, es durch die ihm vertrauten Regeln zu kontrollieren. Frauen beispielsweise waren, verglichen mit dem Theater, im Vorführraum des Lichtspiels stark überrepräsentiert, weil dort nicht die üblichen Benimmregeln herrschten. In einer Gesellschaft, in der die Männer diese Regeln aufstellten, mussten um ihren Ruf besorgte Frauen genau darauf achten, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu bewegen hatten. Eine Dame, die ohne Begleitung ihres Gatten oder eines männlichen Verwandten ein Theater besuchte, setzte sich dem Verdacht aus, eine unmoralische Person zu sein. Im frühen Kino war das alles viel diffuser. Das eröffnete ungewohnte Freiräume. Das Ungewohnte wirkt bedrohlich. Dann werden Regeln eingeführt.
Uniform und Lederhose
Während ich das schreibe ist die CSU dabei, ein "Integrationsgesetz" auf den Weg zu bringen. Neben dem Verbot, "die verfassungsmäßige Ordnung zu unterlaufen" (ich wusste gar nicht, dass das bisher erlaubt war), stehen im Entwurf so wichtige Dinge drin wie die Pflicht der Zuwanderer und Migranten, ihre Kinder zum Spracherwerb in staatliche Einrichtungen zu schicken. Auch die Schulpflicht wurde von Angela Merkel scheinbar abgeschafft, ohne dass ich es bemerkt hätte. Die Pflicht der Zuwanderer, ihre Kinder in die Kita zu schicken, weil sie dort Deutsch lernen, kann nicht gemeint sein, weil die CSU die Schirmherrin der Wahlfreiheit zwischen Kita und Betreuungsgeld ist.
Die CSU will, dass Flüchtlingen ohne vorherige Belehrung über die Hausordnung der Zutritt zum Schwimmbad verwehrt werden kann, wenn der Bademeister es für nötig hält. Das kann er auch ohne Integrationsgesetz, aber egal. Nur: Warum macht man es nicht gleich richtig? Ich plädiere für die Einführung einer Behörde, die stichprobenartig überprüft, ob die Werte des christlichen Abendlandes in der öffentlichen Badeanstalt ausreichend geschützt sind. Wenn das zu teuer wird schützen wir ersatzweise das Integrationsgesetz (wie das funktioniert zeigt der Umgang mit den gesetzlichen Bestimmungen zum Jugendschutz). Kommerzielle Anbieter führen die Freiwillige Selbstkontrolle der Planschbeckenverkäufer ein.
Wer durch "demonstrative Regelverstöße" zeigt, dass er sich nicht zur hiesigen Leitkultur bekennt, sagt Paragraph 13 des Gesetzentwurfs, kann zu einem Grundkurs in freiheitlicher Demokratie verdonnert werden und muss ein Bußgeld zahlen, wenn er nicht hingeht. Was soll das sein, ein "demonstrativer Regelverstoß"? Jedenfalls ist er extrem zeitabhängig. Viele der Traditionen, die man im heutigen Bayern so liebevoll pflegt, weil das zur Identität gehört, wurden von Leuten wie Josef Vogl erfunden, einem Volksschullehrer aus Bayrischzell. Der Legende nach saßen er und fünf Bauernsöhne und Knechte an einem Samstagabend des Jahres 1883 beim Bier und ärgerten sich darüber, dass im Dorf immer weniger kurze Hosen zu sehen waren. Also beschlossen sie, sich kurze Lederhosen anmessen zu lassen und einen Gebirgstrachten-Erhaltungsverein zu gründen. Wie besoffen sie dabei waren weiß man nicht.
Vogl trat in die Fußstapfen des 1864 verstorbenen Trachtenfreundes Maximilian II. (der Vater des "Märchenkönigs" Ludwig II.), in dessen Regierungszeit die Post zwar keine französischen Stummfilme ohne FSK-Freigabe einschleppte, wohl aber ausländisches Liedgut. Offenbar zogen die Postillione nicht nur in romantischen Gedichten singend durchs Land, sondern auch in der Wirklichkeit. Anstelle deutscher Volksweisen (die Musik zu "Hoch auf dem gelben Wagen" wurde erst komponiert, als es Postillione längst nicht mehr gab) brachten die Briefzusteller jedoch italienische Belcanto-Arien zu Gehör, was dem Monarchen ohne seine Berater in Brauchtumsfragen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre, weil er leider so unmusikalisch war wie Georg Kreislers Musikkritiker, der beruflich Pharmazeut ist. Das Volk trällerte munter mit, statt gegen die Überfremdung aufzubegehren und wurde daraufhin vom Monarchen mit Heften beglückt, in denen bayerische, angeblich direkt der Volksseele entsprungene und natürlich uralte Lieder zum Nachsingen versammelt waren. Die Untertanen staunten nicht schlecht über ihre vom König verteidigte Musiktradition. Vieles in den Heften war ihnen völlig unbekannt, weil es gerade erst komponiert und mit volkstümelnden Texten ausgestattet worden war. Auch Traditionen sind nicht alternativlos. Es empfiehlt sich vielmehr, danach zu fragen, wer sie zu welchem Zweck verordnet hat und wer dann aufgesprungen ist.
Mit Maximilian II. als Wegbereiter machte Lehrer Vogls Trachtenidee Furore. Dabei war es nicht ganz unwesentlich, dass allmählich der Tourismus in Gang kam, als Antwort auf die Industrialisierung. Wer im Schatten eines Fabrikschlots oder an einem mit industriellen Abwässern verseuchten Fluss wohnte sah in der Natur nichts Bedrohliches mehr wie früher (die Berge waren bis zur Romantik extrem angstbesetzt, wurden als hässlich und abstoßend empfunden) und in Oberbayern nicht länger eine rückständige Gebirgsregion, sondern einen Sehnsuchtsort, wo die Welt noch in Ordnung war. In dieser heilen Welt wohnten geschäftstüchtige Menschen, die den Touristen ein Folklore-Erlebnis bieten wollten. Da wurde gern mal etwas erfunden oder folkloristisch angereichert, lokale Bräuche wurden plattgewalzt und als "landestypisch" flächendeckend ausgebreitet, wo vorher ein buntes Durcheinander geherrscht hatte.
Diese Neudefinition des Bayerntums gefiel nicht allen. Vogl und seine Mitstreiter hatten viel Ärger mit Einheimischen, die womöglich schon ahnten, dass die nun entstehende Bewegung zum Erhalten und Erfinden von diesem und von jenem bald zu einer Gleichmacherei führen würde (mit Anleihen bei der Armeeuniform) und zu von Trachtenvereinen überwachten Regeln, die es vorher nie gegeben hatte. Aller Anfang ist eben schwer. Neu eingekleidet (kurze Lederhose, grüner Hut und graue Joppe), sorgten Vogl und seine Kameraden beim sonntäglichen Kirchgang für das Amüsement der Bayrischzeller. Augenzeugenberichten zufolge lachten Dorfbewohner die sechs Proto-Trachtler aus und zeigten mit Fingern auf sie, weil das ein so ungewohntes Spektakel war. Für die Zeller war Vogls Auftritt ein demonstrativer Regelverstoß, wie die CSU heute sagen würde (die Partei von "Laptop und Lederhose"), weil die kurze Hose als unsittlich galt. Der Pfarrer als Hüter der Hausordnung wollte so etwas in seiner Kirche nicht haben. Vogl und seine Lederhosenfreunde mussten draußen bleiben.
Interessant daran ist, wie schnell vergessen wurde, dass das heute gepflegte Bayerntum eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist, die vielen der damaligen Bayern gegen den Strich ging. Es ist lohnend, sich den Konstruktcharakter von Traditionen und Gebräuchen in Erinnerung zu rufen, die nicht - wie von ihren Verwaltern gern behauptet - quasi naturgegeben sind und schon immer da waren, sondern in den meisten Fällen viel jünger sind, als man gemeinhin denkt. Diese Erkenntnis untergräbt nicht die Identität, es macht sie krisenfest. Wer weiß, dass die kulturelle Identität nicht starr und ewig gleich, sondern dauernden Veränderungen unterworfen ist, wird sich vom Fremden weniger bedroht fühlen. Aus dem Kirchgang von Lehrer Vogl kann man lernen, dass das, was heute die Norm ist, vor nicht allzu langer Zeit womöglich selbst gegen die Hausordnung verstieß. Das erhöht die Chance, dem Fremden mit Neugier statt mit Angst und Ablehnung zu begegnen.
Licht in der Dunkelheit
Wie kommt man nun von Josef Vogls Lederhose zurück zum frühen Kino? Nichts leichter als das. Bei der Filmindustrie war es so ähnlich wie bei Vogls Trachtenerhaltungsverein und der Tourismusindustrie, die sich der gerade erst vereinheitlichten (und bei Bedarf neu erfundenen) "Traditionen" bemächtigte, weil es gut für die Geschäfte war. Die PR-Strategen der großen Studios kamen auf die Idee, ihr Produkt als "Esperanto für die ganze Welt" anzupreisen und von einer "universellen Filmsprache" zu fabulieren, die gleichsam naturgegeben und also alternativlos sei. Das hatte mehrere Vorteile. Die Vorstellung von einer universellen, überall sofort verständlichen Filmsprache half bei der grenzüberschreitenden Vermarktung. Sie lenkte davon ab, dass es sich beim visuellen Esperanto keineswegs um etwas Naturgegebenes handelte, sondern - auf Seiten der Filmemacher - um eine ideologischen Vorgaben folgende Regelästhetik und - auf Seiten der Zuschauer - um Sehgewohnheiten, die erst eingeübt werden mussten.
Die Filmindustrie war bestrebt, einen möglichst unkritischen Konsumenten zu erschaffen, weil das beim Verkaufen des Produkts von Nutzen war. Der ideale Zuschauer war einer, der gar nicht erst nach Alternativen zu etwas fragte, das angeblich schon immer so gewesen und aus sich selbst heraus entstanden war. In der Werbung sehr beliebt war die Metapher von der Kinoleinwand als einem "Fenster zur Welt". Das verdeckte, dass die auf der Leinwand zu sehende Welt ein Konstrukt war, zusammengesetzt nach bestimmten Regeln, die nicht von der Natur vorgegeben waren, sondern von den Studios, weil die Regeln dabei halfen, das neue Medium zu konsolidieren und durch eine zunehmende Anpassung an die dem Bürgertum vertrauten Wahrnehmungsmuster die Akzeptanz bei denen erhöhten, die in der Gesellschaft das Sagen hatten. Das Spannende am frühen Kino ist, dass es mit den später eingeübten Sehgewohnheiten nicht zu fassen ist und deshalb das in den folgenden Jahrzehnten zur Norm Erklärte in Frage stellt. So universell und alternativlos kann eine Filmsprache nicht sein, wenn es davor schon eine andere gab. Also wurde das, was von den später aufgestellten Regeln abwich, als "primitiv" abqualifiziert (lange Zeit auch von den Filmhistorikern). Das frühe Kino war aber nicht primitiv, es war anders. Das ist ein großer Unterschied.
Im "primitiven" Kino gab es den demonstrativen Regelverstoß zuhauf. Zuwanderer wie die vielen deutschen Wirtschaftsflüchtlinge in den USA beispielsweise liebten das neue Medium, weil man nicht unbedingt die Landessprache beherrschen musste, um den stummen Bildern zu folgen, stammten aber meistens aus der Unterschicht ihres Herkunftslandes (zahlreiche Analphabeten mit dabei) und wussten nicht, wie man sich in den heiligen Hallen der Kultur zu benehmen hatte. Die stille Andacht, mit welcher der Bildungsbürger einer Theaterinszenierung folgte, suchte man im Kino vergebens, weil der Pöbel aus dem Proletariat den Mund nicht halten konnte, lautstark seine Zustimmung oder seinen Unmut bekundete oder sich während der Vorstellung mit dem Sitznachbarn unterhielt - bei Immigranten wie den Deutschen in Amerika in einer Sprache, die der Einheimische nicht verstand. Frauen gingen ohne Begleitung hin und weideten ihr Auge an unerhörten Sachen. Filme aus der Welt des Sports waren doppelt populär. Die Männer mochten sie sowieso, und die Frauen sahen Dinge, die ihnen anderswo verborgen blieben: die nackte Brust eines Boxers zum Beispiel. Eine wichtige Rolle bei der Bewertung des neuen Mediums spielte die Religion. In den puritanisch geprägten USA geriet der Film auch deshalb in Verdacht, der Unzucht Vorschub zu leisten, weil so viele Einwanderer aus katholischen Ländern im Kino saßen. Katholiken standen bei Puritanern in dem Ruf, unmoralische Wüstlinge zu sein, die zur Beichte gingen, um dann wieder sündigen zu können.
Manches an den Bemühungen der CSU und der Bayerischen Staatsregierung, durch "Fordern und Fördern" die Integration zu sichern, erinnert mich an die Einführung des Notausgangs im Kino. Bevor man anfing, eigene Lichtspielhäuser zu bauen, behalf man sich damit, frei gewordene Ladenlokale zu entkernen und Stühle, einen Projektor und eine Leinwand in den Raum zu stellen. Die alten Nitratfilme waren leicht entflammbar. Nach Bränden mit vielen Todesopfern wurde den Kinobetreibern vorgeschrieben (nicht gleich, sondern nach und nach), Notausgänge einzubauen. In vielen der frühen Kinos gab es lange vor dem Notausgang das Licht, das auf ihn hinwies. Der Notausgang selbst war in dieser Übergangsphase oft nur eine Attrappe. Das hatte mit skrupelloser Geschäftemacherei zu tun, aber nicht ausschließlich. Der Notausgang sollte verhindern, dass das Publikum verbrannte, wenn sich das Nitrat entzündete. Das Licht über der Attrappe war eine Beruhigungspille für die Beschützer der Leitkultur. Dank dieses Lichts war die Dunkelheit nicht mehr ganz so dunkel. Denn am schlimmsten war, dass die demonstrativen Regelverstöße in einem finsteren Raum stattfanden.
Wenn die Wächter über Tugend, Moral und Leitkultur in den Zeitungen und Zeitschriften des Bürgertums berichteten, was ihnen im Kino widerfahren war, entbehrte das nicht einer gewissen Komik. Weil das Licht im Vorführraum nicht ausreichte, um genau zu sehen, was da vor sich ging, musste das geistige Auge aktiviert werden, das dazu neigt, Leerstellen mit den eigenen Phantasien zu füllen. Aus manchen dieser Berichte erfährt man mehr über die Autoren als über die tatsächliche Situation, in der sie sich wiederfanden. Schriften der Gebildeten aus dieser Zeit muss man mitunter gegen den Strich lesen, um zu verstehen, was gemeint ist. Eine reizvolle Idee wie die, dass es im Vorführraum hell genug sein müsse, damit der Herr von Welt während der Filmprojektion die Zeitung oder ein Buch lesen konnte, verdanken wir nicht dem Sponsoring durch die Printmedien. Sie war der Angst vor der Dunkelheit geschuldet, und einer vom Bürgertum als chaotisch empfundenen Vermischung sonst von einander geschiedener Gruppen. Im Theater gab es nach Preisen gestaffelte Sitzplätze, woraus sich eine Trennung der gesellschaftlichen Schichten ergab. Die Reichen saßen bei den Reichen, die weniger Begüterten bei Ihresgleichen. Die Armen konnten sich das bürgerliche Theater nicht leisten, den Besuch im Lichtspieltheater aber schon. Weil alle dasselbe bezahlten gab es keine über den Preis geregelte Klassentrennung.
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