Sind Fluchthelfer Schwerverbrecher?

Seite 2: Netflix-Star vor Gericht

In einem ähnlich gelagerten Prozess in Griechenland auf der Insel Lesbos kann eine der prominentesten Angeklagten überhaupt nicht am Prozess teilnehmen. Sahra Mardini darf nicht nach Griechenland einreisen, weil sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit angesehen wird.

Der Fall Sahra Mardini hat international für Aufmerksamkeit gesorgt. Die frühere syrische Wettbewerbsschwimmerin hatte 2015 zusammen mit ihrer Schwester Yusra ein Flüchtlingsboot nach einem Motorschaden schwimmend an Land gezogen. Yusra Mardini nahm später zweimal, 2016 und 2021, als Schwimmerin des olympischen Flüchtlingsteams an Olympischen Spielen teil. Das Leben der Schwestern, die über die Balkanroute bis nach Deutschland gelangten, wurde von Netflix unter dem Titel "Die Schwimmerinnen" verfilmt.

Während Yusra sich dem Schwimmsport widmete, kehrte Sahra nach Griechenland zurück, um selbst aktiv Geflüchteten zu helfen. Sie ließ sich vom Studium, das sie begonnen hatte, beurlauben und zog kurzzeitig auf die Insel Lesbos. Sie begrüßte die Geflüchteten an den Ufern, stieg oft ins Wasser, um ihnen zu helfen, übersetzte und organisierte Waschmaschinen für die Lager.

Ihre Verhaftung erfolgte im Sommer 2018 am Flughafen, als sie zum Studium nach Berlin zurückkehren wollte. Zusammen mit ihr angeklagt ist auch der deutsch-irische Rettungsschwimmer Sean Binder. Binder, Mardini und zwei weitere Angeklagte kamen für 106 Tage in die berüchtigte Haftanstalt Korydallos bei Athen.

Gegen Kaution wurden sie freigelassen. Sie gehören zu einer Gruppe von 24 Angeklagten, denen vor Gericht Schwerverbrechen und weitere Straftaten vorgeworfen worden sind. Die Hauptverhandlung wegen Vergehen wie Spionage, Dokumentenfälschung und illegales Abhören von Funkfrequenzen, bei denen bis zu 25 Jahre Gefängnis drohen, endete am 14. Januar mit einem Urteil.

Die Anklagepunkte wurden fallen gelassen, weil die Richter die Anklageschrift als zu vage einstuften und bemängelten, dass sie nie richtig in die jeweiligen Sprachen der Angeklagten übersetzt worden sei.

Menschenrechtsgruppen hatten die Anklagen von vornherein als Farce kritisiert. So wurde zum Beispiel die Nutzung eines "verschlüsselten Nachrichtendienstes" - nämlich WhatsApp – angeführt, um Spionagevorwürfe damit zu untermauern.

Bei den meisten geringfügigeren Vergehen ist die Fünf-Jahres-Frist für die Verjährung bereits abgelaufen, bei einigen wenigen ist das innerhalb der nächsten Tage der Fall. Deshalb wird es diesbezüglich keine neue Anklage geben, das Verfahren wird eingestellt.

Mit Spannung wird nun der Prozess wegen der Schwerverbrechen erwartet, darunter Vorwürfe des Menschenhandels, Betrugs, der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation und Geldwäsche. Die Anklage verfolgt diese Punkte auch nach fünf Jahren immer noch.

Abschreckende Wirkung

Die fallengelassenen Anklagepunkte sind für die Angeklagten eine Erleichterung. Allerdings haben sie in den vergangenen Jahren neben den Anwaltskosten zahlreiche Einschränkungen hinnehmen müssen. So konnten die Angeklagten zwischenzeitlich nicht arbeiten oder Jobs im Ausland annehmen. Das hat zweifellos eine abschreckende Wirkung auf andere potenzielle freiwillige Helfer, die sich diesem Risiko nicht aussetzen wollen.

Die abschreckende Wirkung ist EU-Konsens, was sich in Griechenland, Italien und auch an der polnischen Grenze zu Belarus manifestiert. Griechenland verstärkt den Grenzzaun an der Landgrenze zur Türkei. An den Seegrenzen sind Zäune nicht möglich. Hier werden Flüchtlingsboote nachweislich durch staatliche Sicherheitskräfte abgedrängt.

Die als Push-Backs bezeichneten Aktionen werden immer wieder dokumentiert, wie zum Beispiel aktuell für einen Vorfall nahe Kreta, bei dem zwischen dem 20. und 21. Oktober 2020 ein Boot mit 197 Geflüchteten abgedrängt wurde. Die neue italienische Premierministerin Georgia Meloni möchte mit einer Flotte vor Nordafrika auch Rettungsschiffe vom Eingreifen in italienischen Gewässern abhalten.

Italien schiebt Geflüchtete, die über Griechenland ins Land gekommen sind, angekettet in den Autogaragen auf Fähren ab – ohne die rechtlich vorgeschriebene individuelle Klärung des Falls durchzuführen. Griechenland kann das gegenüber der Türkei nicht tun. Denn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nimmt die Geflüchteten nicht ins Land zurück. Sie sind daher gefangen in Griechenland.

Erdogan nutzt diesen Umstand propagandistisch aus, indem er die Lager in Griechenland mit Konzentrationslagern der Nazis vergleicht. Diese Polarisierung sorgt wiederum dafür, dass Kritiker der aktuellen EU-Flüchtlingspolitik und der griechischen Umsetzung von "Festung Europa" in den Verdacht geraten, Handlanger der Türkei zu sein.

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